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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Goethe

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Goethe (1786-88).

politischen und militärischen Verbindungen. Er warb und arbeitete für den deutschen Fürstenbund, den letzten politischen Plan Friedrichs II., und trat 1786 als Kommandeur eines Kürassierregiments, das in Aschersleben garnisonierte, in das preußische Heer ein. G. mißbilligte diesen Entschluß des Herzogs durchaus und sah einen Teil seiner zehnjährigen Lebensarbeit als umsonst gethan an. Dazu beglückte ihn die Beziehung zu Charlotte v. Stein nicht mehr in der Weise der ersten Jahre; mancherlei Mißverhältnisse (auch der Altersunterschied und die wachsende eifersüchtige Ausschließlichkeit der Frau v. Stein) legten ihm den Wunsch nahe, auch dieses Verhältnis der Prüfung einer Trennung und Entfernung zu unterwerfen. Schon 1785 hatte G. Karlsbad besucht, im Juli 1786 begab er sich wieder dahin. Kurze Zeit zuvor hatte er mit dem Verleger Göschen in Leipzig einen Vertrag über die Herausgabe seiner "Sämtlichen Schriften" geschlossen, deren erste Bände die früher erschienenen (von Himburg in Berlin u. a. schon zuvor in unrechtmäßigen Ausgaben zusammen gedruckten) Werke neu enthalten sollten, während G. die letzten Bände mit den wenigen vollendeten Arbeiten und zahlreichen Fragmenten seiner weimarischen Jahre zu füllen gedachte. Da inzwischen der Gedanke wuchs, sich aller Schwüle und allem Zwiespalt der Verhältnisse durch eine längere Reise zu entziehen, von der Ferne aus die Zukunft in Weimar zu ordnen und auf alle Fälle ein neues Leben zu beginnen, so zeigte sich auch die Möglichkeit, die angefangenen Arbeiten zu vollenden.

Goethe in Italien und die Rückkehr.

Am 3. Sept. 1786 brach G. von Karlsbad auf und ging "in die Berge". Dies hatte er öfters (gleich im Winter 1777 bei Gelegenheit seiner ersten Harzreise) gethan, und einige Wochen hindurch durfte er vor Nachforschung und Neugier sicher sein. Er reiste unter dem Namen eines Kaufmanns Möller aus Leipzig, ging rasch über Regensburg, München, Innsbruck und den Brenner, über den Gardasee und Verona nach Venedig. In Weimar war nur seinem vertrauten Diener und Sekretär Philipp Seidel sein Reiseziel bekannt. Die ersten Briefe, welche G. nach Hause richtete, waren undatiert. Erst von Rom aus gab er den Nächststehenden Nachricht über seine eigentlichen Entschlüsse und die Absicht, längere Zeit in Italien zu bleiben. Er war mit einem Gefühl gereist, als ob ihm die Erfüllung seines Traums noch jetzt abgeschnitten werden könne; erst unter der Porta del Popolo war er gewiß, Rom zu haben. Doch hatte er schon unterwegs an der Umarbeitung der "Iphigenia" begonnen; in Rom, wo er zunächst bis zum Februar verweilte, wurde sie vollendet. Von weitern dichterischen Arbeiten hielt ihn die Ausübung der bildenden Kunst, nicht das Anschauen der gewaltigen Kunstwerke, das nur belebend auf den dichterischen Sinn wirken konnte, vielfach zurück. Mit einer Art leidenschaftlicher Hartnäckigkeit warf sich G. auf Zeichnen, Modellieren und Malen, um sich am Ende doch zu überzeugen, daß für ihn wohl die Schärfung des Blickes, die Erweiterung seiner Kunstkenntnisse, aber keineswegs eine produktive Thätigkeit als bildender Künstler möglich sei. Im März 1787 verweilte der Dichter in Neapel, ging dann nach Sizilien hinüber, das er mit schwelgendem Entzücken sah, nahm einen zweiten Aufenthalt in Neapel, wo er sein Inkognito nicht zu behaupten vermochte, und kehrte gegen die Mitte des Jahrs 1787 nach Rom zurück, entschlossen, in diesem Jahr den deutschen Boden nicht wieder zu betreten, sollte es ihn selbst seine weimarische Stellung kosten. Es unterliegt keinem Zweifel, daß G. damals die Möglichkeit ins Auge zu fassen hatte, fernerhin als Privatmann, sei es in Italien, sei es im heimischen Frankfurt, weiterzuleben. Inzwischen räumte Karl Augusts Großherzigkeit und wahre Freundschaft alles aus dem Weg, was der Rückkehr Goethes entgegenstehen konnte. Dem bestimmt ausgesprochenen Vorsatz desselben, fernerhin nur als Künstler, als Schriftsteller zu leben, begegnete er mit der Entbindung von der Mehrzahl seiner amtlichen Pflichten, von denen G. von nun an nur diejenigen beibehielt, welche mit seinen eigensten Bestrebungen harmonierten: die Oberaufsicht über die Anstalten und Sammlungen für Kunst und Wissenschaft, die freie Zeichenschule etc., zu denen dann 1792 noch die Intendanz des neuerrichteten Hoftheaters kam. Somit über seine Zukunft in Deutschland beruhigt, gab sich G. während des Herbstes und des Winters von 1787/88 seinen Genüssen und Studien mit freierer Seele hin, vollendete im August die Tragödie "Egmont", überarbeitete metrisch seine kleinern Singspiele und dachte an die Vollendung des "Tasso", welcher freilich eine völlige Umschmelzung des Werkes vorangehen mußte. Seinen Umgang bildeten einige Künstler (Tischbein, Heinrich Meyer), der Schriftsteller K. Ph. Moritz u. a.; namentlich aber verkehrte er im Haus der Malerin Angelika Kauffmann. Hier scheint sich auch die Neigung entsponnen zu haben, welche ihn während des zweiten römischen Winters "mehr als billig" in Anspruch nahm: die Leidenschaft für eine schöne Mailänderin, die wohl tiefer gehend und ihn mehr bewegend war, als die spärlichen Blätter, welche ihr in der "Italienischen Reise" gewidmet sind, verraten. Umsonst hatte der Dichter den Rat des Herzogs befolgt, sich durch flüchtige Liebesabenteuer von allen Schmerzen der Leidenschaft freizuhalten. Die Mailänderin, die Goethes Empfindung herzlich erwiderte, brachte ihm (sie war verlobt) hier an der Schwelle seines 40. Jahrs die Wetzlarer Jugendleiden noch einmal. Wie damals, fand G. auch diesmal Kraft zur Entsagung; aber das ohnehin schmerzliche Scheiden aus Rom ward ihm durch dies Erlebnis wesentlich erschwert. Ende April 1788 rüstete er sich zur Heimfahrt, nachdem er zuvor noch einmal den römischen Karneval mit gefeiert und die Osterwoche mit ihren kirchlichen Festen in den Kreis seiner Anschauungen aufgenommen hatte. Über Florenz, in dessen Prachtgärten er sein Tasso-Manuskript zu fördern suchte, und Mailand ging er nach Deutschland zurück. "Der schmerzliche Zug einer leidenschaftlichen Seele, die unwiderstehlich zu einer unwiderruflichen Verbannung hingerufen ward", geht allerdings durch die Tassodichtung hindurch.

"Ich darf wohl sagen, ich habe mich in dieser anderthalbjährigen Einsamkeit selbst wiedergefunden. Aber als was? - Als Künstler... Ich werde Ihnen noch mehr werden, als ich oft bisher war, wenn Sie mich nur das thun lassen, was niemand als ich thun kann, und das andre andern übertragen." Im Sinn dieses Briefs hatte der Herzog Goethes Stellung gestaltet und kam dem Heimkehrenden mit alter Herzlichkeit entgegen. Der holländische Feldzug der preußischen Armee, an dem er inzwischen teilgenommen, und mancherlei Erfahrungen hatten auch Karl August Goethes Standpunkte wieder nähergerückt. Gleichwohl fühlte sich der Heimgekehrte nicht heimisch. Die engen Weimarer Zustände wollten zu seinen römischen Erinnerungen nirgends passen. Das Schicksal führte ihm, der schon geneigt war, sich der deutschen Gesellschaft, ihren Vorurteilen entgegenzustellen, der