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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Goethe

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Goethe (als Naturforscher und Philosoph).

mit Zelter", Bd. 4, Brief 512) beweist, die ein höchst beachtenswertes System der Philosophie der Musik enthält, von dem G. selbst sagt, daß er es mit vielem Fleiß und Ernst 1810 als Resultat seiner Unterhaltung mit Zelter über den Gegenstand entworfen habe.

Die Bedeutung Goethes als Naturforscher ist eigentlich erst in letzter Zeit recht gewürdigt. Sein klar auf die Erscheinung und auf das Verhältnis zwischen Objekt und Subjekt gerichteter Blick und die Genialität, mit welcher er den innern Zusammenhang der Dinge, oft seiner Zeit weit vorauseilend, zu erfassen wußte, würden ihn auf allen Gebieten der Naturwissenschaft zu einer Autorität haben machen können, wenn er nicht in Verkennung seines Mangels an Vorkenntnissen gerade seine Hauptthätigkeit auf einen Zweig gerichtet hätte, in welchem er wohl anregend, aber in der That mehr störend als fördernd wirkte: die Optik. Seine "Farbenlehre" ist ein merkwürdiges Gemisch gesunder Beobachtung und verfehlter Schlußfolgerung, seine Polemik gegen das Newtonsche "Gespenst", wie er es nannte, in Wahrheit ein Kampf gegen einen Schatten, denn das Wesen der eigentlichen Farbenlehre der modernen Physik ward von ihm wenig oder gar nicht erfaßt und berührt. In seiner wahren Größe erscheint dagegen G. wieder in allen Zweigen beschreibender Naturwissenschaft, mögen die Gegenstände meteorologisch (Wolken) oder mineralogisch oder der organischen Welt angehörig sein. Es ist zu wenig bekannt, daß G. für seine Zeit ein guter Mineralog und Geolog war. Er hing als solcher der Wernerschen Schule, freilich mit ihren Einseitigkeiten, an; dies bewahrte ihn aber auch vor den Einseitigkeiten, deren sich die auf Werner folgende Buchsche Schule schuldig machte. G. hat gegen diese nicht nur zuzeiten durch Aussprüche in Poesie und Prosa Verwahrung eingelegt, sondern auch positiv in seiner Richtung genützt, wie z. B. in seiner Untersuchung über den Kammerberg bei Eger. Gerade diese Seite seiner naturwissenschaftlichen Thätigkeit wie auch die Bearbeitung der Howardschen Wolkentheorie beweisen zur Genüge, daß sich G. nicht etwa durch den Mißerfolg seiner "Farbenlehre" (1810) von der Naturforschung abschrecken ließ. Noch 1825 gab er die "Witterungslehre" heraus. Bedeutender sind Goethes Leistungen auf dem Gebiet der organischen beschreibenden Naturwissenschaften, besonders auf dem der Morphologie (von ihm Metamorphose genannt). Nicht nur die schon 1790 erschienene "Metamorphose der Pflanzen" enthält sehr wichtige neue Ideen (er sprach zum erstenmal den seither anerkannten Gedanken aus, daß alle peripherischen Organe aus der Blattform entspringen, bis einschließlich der meisten Blüten- und Fruchtteile), sondern er machte namentlich auf dem Gebiet der vergleichenden Anatomie sehr schätzbare Entdeckungen (Allgemeinheit des Zwischenkieferknochens 1786, namentlich aber Ableitung der Schädelteile aus der Wirbelform) und faßte die Tierwelt überhaupt mehr als ein Ganzes auf. Hierdurch wird es aber auch erklärlich, daß er, gleich Lamarck u. a., zu seiner Zeit durch die Autorität Cuviers zu sehr in Schatten gestellt wurde. Seiner Zeit darin vorauseilend, ward er von Laien und Fachmännern als "Dilettant" verschrieen, während uns jetzt nicht nur seine wissenschaftlichen Abhandlungen, sondern mehr noch manche Gedichte naturwissenschaftlichen Inhalts ("Metamorphose der Pflanze", "Metamorphose der Tiere" u. a.) in ihrer anmutigen, genialen Weise anheimeln und zu belehren im stande sind.

Goethes Verhältnis zur Philosophie ist Gegenstand vielfachen Streites gewesen. Man hat den Dichter von einer Seite aus für eine gänzlich unphilosophische Natur gehalten, während ihm anderseits sogar ein vollständiges System der Philosophie unterbreitet worden ist, wie unter andern von Schütz, und während neuestens sogar der unerhörte Versuch gemacht wird, dem "Faust" alles echte und unmittelbare poetische Leben abzusprechen und selbst die Gestalten des ersten Teils nur als Umhüllungen philosophischer, abstrakter Begriffe zu betrachten. Wohl kann es keinem Zweifel unterliegen, daß dem gesamten Schaffen Goethes eine philosophische Einheit zu Grunde liegt, die nachträglich daraus abstrahiert zu werden vermag. Dagegen war er zu sehr Dichter mit Leib und Seele, unmittelbarster, an die Dinge sich in liebevoller Hingabe verlierender Poet, zu sehr praktischer Apriorist, als daß es ihm jemals hätte beikommen können, eigentlich spekulatives Denken in ein System bringen und etwa gar hiernach das Knochengerippe der Gedanken mit dem Fleisch und Blut seiner Poesie zu umkleiden. Wie weit G. Philosoph war, vermögen wir vorzüglich deutlich in seinen naturwissenschaftlichen Schriften und, was seine dichterischen Gestalten angeht, im Mephisto zu erkennen. Vom Formalismus der Logik, wie er sich, als G. in Leipzig studierte, auf den deutschen Lehrstühlen breit machte, angewidert, fühlte er sich zu Spinoza hingezogen. Was ihn zunächst an diesen großen Denker, der von den damaligen Philosophenschulen noch sehr oberflächlich abgefertigt wurde, fesselte, das war dessen Charakterhöhe, die sittliche Würde einer Philosophie, die "grenzenlose Uneigennützigkeit, die aus jedem Satz hervorleuchtete". Der Kern der Spinozaschen Lehre stimmte mit Goethes tieferer sittlicher Eigentümlichkeit, die unter seinem stürmischen jugendlichen Streben noch verhüllt war, und so fand er in ihr Stärkung und Gewißheit und vor allem "Beruhigung seiner Leidenschaften". Was also die Antike für die Form, das ward ihm Spinoza für den sittlichen Gehalt. Zum andernmal, daß G. sich den Inhalt eines philosophischen Systems geistig zu assimilieren suchte, hatte er das Kantsche gewählt. In den Gesprächen mit Eckermann hat er es klar ausgesprochen, daß er Kant für den größten Philosophen der neuern Zeit und die von ihm ausgegangene Wirkung für die weitgreifendste halte. In seinen Briefen an Schiller, der ihn erst in die eigentliche Tiefe der Kantschen Lehren einführte, spielt die Erörterung dieser eine große Rolle. In dem Aufsatz "Einwirkung der neuern Philosophie" legt G. selbst dar, wie förderlich ihm die "Kritik der Urteilskraft" zu seiner Entwickelung gewesen und wie gründlich sie ihn über sich selbst aufgeklärt habe. Kant ward ihm der Führer zur methodischen Klarheit in seinen künstlerischen und naturwissenschaftlichen Bestrebungen. Von nun an behielt er die Fortentwickelung der deutschen Philosophie immer im Auge, sowenig ihm seine Dichternatur gestattete, sich mit dem Scholastizismus der Methodik und Systematik im engern Sinn zu befreunden. F. H. Jacobi, mit dem G. einst im jugendlichen Idealismus geschwärmt hatte, fühlte sich schon während der Jahre unmittelbar nach Goethes italienischer Reise mit diesem philosophisch entzweit. Goethes Hingebung an die Natur, in der er seinen Gott auf das entzückendste offenbart sah, dünkte jenem abgöttisches Wesen, und des Dichters tiefes Gefühl für die Herrlichkeit des Universums nannte Jacobi pantheistische Weltanschauung. Den Beinamen des "großen Heiden" hat denn G. auch in diesem Sinn reichlich verdient, und er wird ihn bei den Befangengläubigen wohl jederzeit behalten.