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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Großbritannien

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Großbritannien (Geschichte 1841-1842).

Fragen, die ihm den Untergang bereiteten. Das von dem Schatzkanzler Baring vorgelegte Budget schloß infolge der durch die auswärtigen Händel verursachten Mehrausgaben mit einem Defizit von beinahe 2 Mill. Pfd. Sterl. ab, das die Regierung durch eine Veränderung der Zollpolitik im freihändlerischen Sinn, Erhöhung der Zucker- und Verminderung der Getreidezölle, decken wollte. Dadurch aber erregte sie einen gewaltigen Sturm, und nach langen und heftigen Debatten ward 4. Juni ein von Peel beantragtes direktes Mißtrauensvotum mit einer Mehrheit von einer Stimme angenommen. Das Ministerium verfügte darauf die Auflösung des Parlaments; aber in dem neuen, am 19. Aug. zusammentretenden Unterhaus hatten die Tories eine Majorität von 80-90 Stimmen. Damit war das Schicksal der Regierung entschieden; nachdem sie bei der Adreßberatung im Oberhaus und im Unterhaus geschlagen war, trat sie endlich (28. Aug.) vom Staatsruder zurück. Am 1. Sept. begann das neue Toryministerium seine Funktionen. An seiner Spitze stand Robert Peel; Minister ohne Portefeuille war der greise Herzog von Wellington, unter den übrigen Mitgliedern, die größtenteils bereits 1834 unter Peel gedient hatten, waren der Lord-Kanzler Lord Lyndhurst sowie die Minister des Innern Sir James Graham, der Kolonien Lord Stanley, des Auswärtigen Graf von Aberdeen die bedeutendsten.

Peels Steuer- und Zollreform.

Unter großen Schwierigkeiten trat das Ministerium Peel die Verwaltung an. Nach außen die Kriege mit China und Afghanistan (welch letzterer schon 1838 begonnen hatte), das gespannte Verhältnis mit Frankreich, die Wirren im Orient; nach innen das Defizit, das Mißtrauen der Hochkirchenmänner gegen den der Aufklärung zugeneigten Peel, die Erbitterung der Whigs, die immer zunehmende Agitation des Bundes gegen die Korngesetze, namentlich in den Industriebezirken, wo die Massen der arbeitenden Bevölkerung auf seiner Seite standen, endlich die durch O'Connells feurige Beredsamkeit geschürte Erregung in Irland, die in jedem Augenblick die gesetzlichen Bahnen zu verlassen drohte: es gehörte ein staatsmännisches Talent wie das Peels dazu, um solchen Schwierigkeiten gegenüber den Mut nicht zu verlieren. Im Innern begnügte er sich zunächst mit vorübergehenden Maßregeln zur Deckung des Defizits und schloß schon 6. Okt. die Session. In der auswärtigen Politik mußte das Ministerium die ihm von den Vorgängern hinterlassene Erbschaft antreten; wenigstens im Orient war es zunächst unmöglich, jene sparsame Friedenspolitik zu befolgen, welche das Land von der Toryverwaltung erwartete. Der Krieg in China wurde mit Energie und Erfolg fortgesetzt: die englische Flotte erzwang 21. Juli 1842 den Eingang in den Jantsekiang, erschien vor Nanking und nötigte China zu einem Frieden (29. Aug.), welcher den Engländern den Besitz von Hongkong verschaffte, ihnen eine Anzahl Häfen öffnete und eine Kriegssteuer von 21 Mill. Doll. einbrachte. Schlimmer standen die Dinge in Ostasien, wo es 1841 zu einer furchtbaren Katastrophe gekommen war, indem die ganze an 6000 Mann starke britische Armee in Kabul durch die Treulosigkeit der Afghanen bei ihrem Rückzug nach Dschelalabad schmählich zu Grunde ging. Auch hier hatte man unter der neuen Regierung besseres Gelingen. Unter dem von ihr ernannten neuen Generalgouverneur von Indien, Lord Ellenborough, stellten die Generale Pollock und Nott 1842 durch einen glänzenden Feldzug nach Afghanistan die Ehre der britischen Waffen wieder her. Am 12. Okt. wurde Kabul erobert; dann nahm man furchtbare Rache, räumte aber im Gegensatz zu der von den Whigs befolgten Politik Anfang 1843 Afghanistan wieder.

Alle diese auswärtigen Erfolge aber vermochten nicht über das Gefährliche der innern Lage von G. hinwegzuhelfen. Eine andauernde Handelskrise und eine neue Mißernte im J. 1841 sowie andre elementare Unglücksfälle hatten die allgemeine Unruhe so gesteigert, daß Peel die Notwendigkeit erkannte, wenigstens in der Frage der Korngesetze einige Zugeständnisse zu machen, obschon wegen derselben ein Mitglied der hohen Aristokratie und einer der einflußreichsten Großgrundbesitzer, der Herzog von Buckingham, aus dem Kabinett austrat. Nachdem 3. Febr. das Parlament wieder eröffnet war, brachte Peel am 9. seine Kornzollbill ein. Dieselbe hielt den Grundsatz einer sogen. gleitenden Zollskala fest, d. h. auch sie machte die Höhe des Zolles von den Getreidepreisen in G. abhängig, ermäßigte aber das Maximum des Zolles von 35 auf 20 Schilling für das Quart Weizen. Obwohl den Whigs diese Ermäßigung nicht genügte und Cobdens Partei bei ihrem Verlangen nach gänzlicher Aufhebung der Getreidezölle beharrte, obwohl die Großgrundbesitzer anderseits sich gegen jedes Zugeständnis in dieser Beziehung sträubten, wurde Peels Vorschlag nach langen Debatten im April angenommen; aber, wie vorherzusehen gewesen war, die Agitation der Anticornlawleague wurde durch diesen halben Sieg nur zu größerer Energie ermutigt. Radikaler waren die Finanzmaßregeln Peels; um dem immer mehr anschwellenden Defizit abzuhelfen, schlug er die Erhebung einer Einkommensteuer von etwa 3 Proz. zunächst auf fünf Jahre vor, welche die Einkommen unter 150 Pfd. Sterl. freilassen und also nur die wohlhabendern, bis dahin unverhältnismäßig wenig mit Steuern belasteten Kreise der Bevölkerung treffen sollte. Zugleich kam er durch eine Reform der Zolltarife den Bestrebungen der Freihändler insofern entgegen, als er eine Anzahl wenig einträglicher, aber für den Verkehr lästiger Schutzzölle teils zu beseitigen, teils wenigstens zu ermäßigen vorschlug. Trotz energischer Opposition in beiden Häusern gelang es dem Minister, diese wahrhaft staatsmännischen Maßregeln durchzusetzen; er hat sich dadurch unvergeßliche Verdienste um G. und sein materielles Aufblühen erworben.

Für den Augenblick freilich konnten diese Gesetze der noch immer steigenden Not nicht abhelfen, und die auch jetzt noch von chartistischen Ideen beherrschte Arbeitermasse trat gerade im J. 1842 aufs neue mit ihren die Grundlage der ganzen Staatsordnung in Frage stellenden Forderungen wieder hervor. Die Deputierten des chartistischen "Nationalkonvents" erschienen in London, um dem Parlament nochmals eine von O'Connor verfaßte, mit über 3 Mill. Unterschriften versehene Riesenpetition zu überreichen, welche die alten Forderungen der "Volkscharte" wiederholte, aber außerdem noch neue, völlig aberwitzige Wünsche hinzufügte und unter anderm die Einstellung der Verzinsung der Staatsschuld, also ganz einfach einen Staatsbankrott, verlangte. Am 2. Mai begab sich ein ungeheurer Zug, die Mitglieder des Nationalkonvents an der Spitze, mit der Riesenpetition nach dem Parlamentshaus, aber trotz der Befürwortung Duncombes im Unter-, Broughams im Oberhaus lehnte das Parlament es mit überwältigender Majorität auch jetzt ab, die