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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Großbritannien

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Großbritannien (Geschichte 1867-1868).

jährlich 10 Pfd. Sterl. Mietzins das Wahlrecht zu. So ging denn 15. Juli die Bill, welche für die Städte das nur durch einjährige Wohnung und entsprechende Steuerzahlung beschränkte Household-suffrage, für das Land einen Zensus von 12 Pfd. Sterl. festsetzte, in dritter Lesung durch das Unterhaus. Von den Amendements der Lords erhielt nur eins, welches in zwölf großen Städten mit je drei Abgeordneten der Minorität, sobald sie mehr als ein Drittel aller Stimmen zählte, ein Mandat sicherte, die Genehmigung des Unterhauses. In allen übrigen Dingen gaben die Lords nach (12. Aug.). Mit diesem zu Ende der Session verkündeten neuen Wahlgesetz (einem "Sprung ins Dunkle", wie Derby selbst sich ausdrückte) war die ganze englische Verfassung auf eine neue demokratische Grundlage gestellt. Die von den Gegnern der Maßregel gefürchteten und prophezeiten verhängnisvollen Folgen traten zunächst nicht ein; nach wie vor blieb das Unterhaus die Vertretung des eigentlichen Mittelstandes; ja, die zweiten allgemeinen Wahlen nach dem neuen System ergaben sogar eine entschiedene konservative Mehrheit. Aber trotzdem ist ein stärkeres Hervortreten des Radikalismus im Parlament und infolgedessen auch in der Regierung, namentlich nach den Wahlen von 1880, deutlich zu erkennen gewesen, und der Gang der Entwickelung scheint, soweit sich bis jetzt beurteilen läßt, auf eine weitere Stärkung dieser Elemente hinzuweisen.

Die irische Frage.

Abgesehen von den Debatten über die Reformbill, war in diesem Jahr die allgemeine Aufmerksamkeit besonders wieder durch Irland in Anspruch genommen. Die beunruhigenden Symptome, welche schon im Dezember des Vorjahrs zu neuen Verhaftungen und zu Haussuchungen nach Waffenvorräten Veranlassung gegeben hatten, dauerten in das neue Jahr hinüber. In Amerika war allerdings unter den Feniern eine Spaltung ausgebrochen, indem Stephens von einem andern Führer der Partei, dem General Millen, als Betrüger bezeichnet und infolgedessen von der Führerschaft abgesetzt wurde (Januar 1867). In Europa aber hörte die Bewegung darum nicht auf, sie wurde vielmehr noch drohender. Das Anzeichen der neuen Erhebung der Fenier war ein Angriff auf das Schloß zu Chester (11. Febr.), um die darin befindlichen Waffen und Munitionsvorräte nach Irland zu bringen; wiederholte Insurrektionen in Irland bei Killarney (12. Febr.), Drogheda (5. März), der Versuch einer Landung bei Waterford (Anfang Juni), die Verbreitung von Proklamationen der "provisorischen Regierung der irischen Republik" folgten. Alle diese Versuche der Fenier scheiterten zwar, aber sie hielten doch die Bevölkerung in fortwährender Unruhe. Im September gelang dann den Feniern zu Manchester durch Meuchelmord die Befreiung zweier angesehener Gefangenen ihrer Partei, doch wurden etwa 20 der Beteiligten verhaftet und drei der Mörder (23. Nov.) hingerichtet. Die letzte Schandthat der Fenier in diesem Jahr war endlich der Versuch, zwei Gefangene aus dem Gefängnis Clerkenwell zu London durch eine Pulverexplosion zu befreien (13. Dez.), welche etwa 40 Personen der Nachbarschaft, meistens aus dem Volk, das Leben kostete. Hatte der Fenianismus wirklich noch Sympathien bei den Arbeiterklassen Englands gehabt, so ging er derselben durch solche Mordthaten gänzlich verlustig.

Im Herbst 1867 unternahm die Regierung eine Expedition gegen den Kaiser Theodor von Abessinien zur Züchtigung für Gewaltthätigkeiten, die sich derselbe gegen Unterthanen der englischen Krone erlaubt hatte; man verwendete dazu mit Rücksicht auf das Klima indische Truppen unter dem Oberbefehl Sir Robert Napiers. Dieser unternahm 14. April 1868 einen Sturm auf die Festung Magdala, welcher rasch und ohne viel Verlust zum Ziel führte; 14,000 Abessinier streckten die Waffen (näheres s. Abessinien, Geschichte). Die Kosten für diesen Feldzug bewilligte das im November 1867 zu einer außerordentlichen Session einberufene Parlament, wobei die Regierung unter Zustimmung beider Häuser die Erklärung abgab, daß sie an eine Besitznahme des eroberten Abessinien nicht denke; in der That wurde dasselbe 1. Juni 1868 von den Engländern wieder geräumt.

Im Februar 1868 kam das Parlament aufs neue zusammen und ließ sich von der Regierung leicht dazu bewegen, eine Verlängerung der Ausnahmemaßregeln gegen Irland zu beschließen. Damit aber war die irische Frage selbst nicht zu erledigen, mit der sich unaufhörlich alle Kreise der Bewohner Großbritanniens beschäftigten, indem die hervorragendsten Politiker, Männer der verschiedensten Richtung, in öffentlichen Reden oder Flugschriften die Lage Irlands besprachen. Im großen und ganzen waren die Liberalen darüber einig, daß in den kirchlichen und agrarischen Verhältnissen die Wurzel des Übels zu suchen sei. Während Russell meinte, mit einem Landgesetz auszureichen, welches den von den Grundbesitzern ausgewiesenen Pachtern eine billige Vergütung für die auf die Verbesserung des Gutes verwandte Kapitals- und Arbeitskraft sichere, forderte Stuart Mill, daß den irischen Bauern sofort ohne Ausnahme die von ihnen bebauten Landstellen als Eigentum überlassen werden sollten. Bright stand für die Organisation des ländlichen Besitzes die Stein-Hardenbergsche Gesetzgebung als Muster vor Augen. Mill und Bright begehrten mit gleicher Entschiedenheit die Aufhebung der irischen Staatskirche, während auch hier Russell weniger radikale Anschauungen vertrat. Der so in öffentlicher Diskussion gereiften Angelegenheit konnte auch das Ministerium nicht länger aus dem Wege gehen.

Schon im Lauf des Jahrs 1867 hatten einige minder bedeutende Personalveränderungen in der Regierung stattgefunden; nun erfolgte 25. Febr. 1868 auch die längst erwartete Resignation des gichtkranken Lords Derby; Premierminister wurde Disraeli, den G. W. Hunt als Kanzler des Schatzamtes ersetzte. Im März mußte das so veränderte Kabinett der irischen Frage näher treten. Es hatte gehofft, mit kleinen Zugeständnissen, namentlich mit Gründung einer katholischen Universität, auszureichen; die Opposition aber, welche sich geschlossen um Gladstone scharte, hielt eine durchgreifende Reform für erforderlich und die Regierungsvorschläge für völlig ungenügend. Gladstone wünschte in der Ackerbaufrage nicht weiter zu gehen als Russell und wies die Forderungen Stuart Mills rundweg ab; dagegen wollte er in der kirchlichen Frage radikal vorgehen und beantragte die Entstaatlichung (disestablishment) der irischen Kirche, d. h. die Entziehung aller Rechte, deren sich dieselbe bisher als Staatskirche erfreut hatte. In diesem Sinn brachte er Ende März eine Resolution ein, welche trotz des Widerspruchs der Regierung mit 56 Stimmen Mehrheit angenommen wurde (30. April 1868). Trotz dieser Niederlage blieb Disraeli im Amt; er erklärte, ohne sich durch die heftigsten Angriffe in beiden Häusern beirren zu lassen, daß erst das nach dem neuen Wahlgesetz noch in diesem Jahr neu zu wählende Unterhaus die definitive Entscheidung in einer so wichtigen Frage, wie die irische sei, treffen