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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Großbritannien

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Großbritannien (Geschichte 1885).

der Entrüstung, und Wolseley bereitete einen Rachezug nach Chartum vor, den zu ermöglichen sogar ein kostspieliger Eisenbahnbau von Suakin nach Berber begonnen wurde; aber inzwischen traten andre auswärtige Verwickelungen ein, welche sich der Verwirklichung dieser Absichten entgegenstellten. Im Mai 1885 wurde der Angriff gegen den Mahdi, für dessen Vorbereitung Millionen ausgegeben waren, aufgegeben, und im Juli war die definitive Räumung des Sudân durchgeführt.

Inzwischen war G. andern Konflikten mit Deutschland und Rußland kaum entgangen. Den deutschen Kolonialbestrebungen, wie sie in den Jahren 1884 und 1885 in Afrika und Australien hervortraten, hatte die Eifersucht Gladstones und Granvilles Schwierigkeiten mancherlei Art zu bereiten versucht und dadurch eine sehr gereizte Stimmung der deutschen Regierung hervorgerufen, die in den vom Fürsten Bismarck veröffentlichten Weißbüchern und in den Reichstagsreden desselben deutlich zu Tage trat. Schließlich aber hatte dann England doch auf der ganzen Linie zurückweichen und schon 1884 die deutschen Erwerbungen an der afrikanischen West- und Ostküste anerkennen sowie im nächsten Jahr sich zum Abschluß einer Konvention verstehen müssen, durch welche die Osthälfte Neuguineas zwischen Deutschland und G. geteilt wurde. Mit Rußland war man wegen der Frage der Regulierung der Grenzen zwischen Afghanistan und den letzten russischen Erwerbungen in Zentralasien zu Anfang des Jahrs 1885 in die ernstesten Differenzen geraten, die einen Krieg zwischen beiden Mächten befürchten ließen. Schon hatte G. die Armeereserve einberufen (27. März) und einen Kredit von 11 Mill. Pfd. Sterl. beim Unterhaus beantragt, da kam es im Mai durch die Nachgiebigkeit Gladstones zu einem Abkommen, dessen definitiver Abschluß sich freilich noch monatelang hinzog. Die diplomatische Isolierung Englands wirkte auf die Ordnung der Verhältnisse in Ägypten sehr ungünstig ein. Hier waren insbesondere die Finanzen durch die Kosten der englischen Okkupation und der Bekämpfung des Aufstandes vollkommen zerrüttete. Ein Versuch, durch eine Reduktion der Zinsen der ägyptischen Schuld Abhilfe zu schaffen, schlug fehl; G. bedurfte dazu der Zustimmung der Großmächte, aber eine Londoner Konferenz, welche dieselbe erteilen sollte, verlief ergebnislos und mußte 2. Aug. 1884 geschlossen werden. Erst im März 1885 kam es zu einem Abkommen, in dem die Großmächte eine neue ägyptische Anleihe von 9 Mill. Pfd. Sterl. garantierten; aber auch dies Ergebnis wurde nur durch die Nachgiebigkeit Gladstones erreicht, indem durch die Errichtung einer internationalen Schuldentilgungskasse die Finanzkontrolle der Großmächte in Ägypten, wenn auch nicht dem Namen, so doch der Sache nach wiederhergestellt wurde.

Wenn trotz all dieser Mißerfolge auf dem Gebiet der auswärtigen Politik Gladstone sich behauptete, wenn die in den Sessionen von 1884 und 1885 mehrmals beantragten Tadelsvoten gegen seine Regierung, im Oberhaus regelmäßig angenommen, im Unterhaus stets (allerdings gegen eine immer wachsende Minorität, dasjenige vom Februar 1885 nur noch mit 302 gegen 288 Stimmen) verworfen wurden: so verdankte er das seinen Maßregeln auf dem Gebiet der innern Politik, welche die radikale Partei immer fester an seine Person knüpften. Schon 29. Febr. 1884 hatte er eine neue höchst demokratische Reformbill im Unterhaus eingebracht, deren Kern darin bestand, die 1867-69 für die Städte eingeführte Erweiterung des Wahlrechts, das Stimmrecht der Haushaltungsvorstände (household-franchise) und Chambregarnisten (lodgers-franchise) auch in den ländlichen Wahlbezirken einzuführen und in Stadt und Land unter gewissen Bedingungen auch den männlichen Dienstboten ein Stimmrecht (service-franchise) zu verleihen. Dies Gesetz vermehrte die Zahl der Wähler um nicht weniger als zwei Millionen und stellte die politischen Verhältnisse Großbritanniens abermals auf eine ganz neue Grundlage. Später sollte dann durch ein zweites Gesetz eine neue Einteilung der Wahlbezirke durch das ganze Reich erfolgen. Im Unterhaus wurde die Reformbill 26. Juni angenommen; im Oberhaus aber stieß sie auf den heftigsten Widerstand, und hier wurde 8. Juli mit 205 gegen 146 Stimmen beschlossen, die zweite Lesung nicht eher vorzunehmen, als bis auch die Wahlbezirksbill bekannt wäre. Die Konservativen hofften dadurch die Regierung zu einer Auflösung des Parlaments zu zwingen und bei den dann noch auf Grund des alten Wahlgesetzes zu bewirkenden Neuwahlen den Sieg zu erringen. Allein gerade davon wollte Gladstone nichts wissen. Er vertagte das Parlament nach Erledigung der laufenden Geschäfte (14. Aug.) und kündigte eine Herbstsession an, die 23. Okt. eröffnet wurde; in der Zwischenzeit hallte es in der Presse und den Volksversammlungen der radikalen Partei von den heftigsten Drohungen gegen die Existenz des Hauses "der erblichen Gesetzgeber" wider. Indessen wirkliche Maßregeln gegen das Oberhaus, die ein großer Teil auch der liberalen Partei nicht gebilligt haben würde, wurden nicht ergriffen. Vielmehr fanden Verhandlungen zwischen den Führern der beiden Parteien statt, die schließlich zu einer Verständigung über die Hauptgrundsätze der Wahlbezirksbill führten: die Einteilung der Wahlbezirke in Stadt und Land sollte wesentlich auf Grund der Einwohnerzahl erfolgen und jeder Wahlbezirk (mit wenigen Ausnahmen) nur einen Abgeordneten wählen. Die Zahl der Abgeordneten sollte auf 670 vermehrt werden. Darauf wurde die Reformbill im Oberhaus angenommen (5. Dez.); die Einzelberatung der Wahlbezirksbill und andrer damit zusammenhängender Gesetze wurde dem nächsten Jahr vorbehalten; erst 23. Juni 1885 kam die ganze große Reformgesetzgebung, die man als eine "friedliche Revolution" bezeichnete, zum Abschluß.

Kampf der Parteien um Irland.

Die liberale Regierung hatte diesen Abschluß nicht mehr erlebt. Immer mehr hatten sich die gemäßigten Whigs während der letzten Jahre Gladstones Politik entfremdet; mit ihrer Hilfe erlitt sie 9. Juni 1885 bei der Beratung über das Einnahmebudget eine Niederlage und reichte ihre Entlassung ein. Nach einer 14tägigen Ministerkrisis bildete Lord Salisbury eine neue konservative Regierung, in welcher er selbst das Präsidium und das Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten übernahm; die wichtigsten Mitglieder derselben waren Sir St. Northcote, der unter dem Namen Graf Iddesleigh ins Oberhaus versetzt ward (Präsident des Geheimen Rats), Sir M. Hicks-Beach (Finanzen), Lord R. Churchill (Indien), Stanley (Kolonien) und Smith (Krieg). Diese neue Regierung gab der auswärtigen Politik eine andre Richtung. Sie näherte sich Deutschland, glich die Streitigkeiten mit Rußland durch den Abschluß einer Konvention vom 10. Sept. 1885 aus und ging insbesondere energisch in Hinterindien vor, wo Frankreich durch die Erwerbung Tongkings seinen Einfluß beträchtlich erweitert hatte. Infolge gewisser