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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Harn

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Harn (Verhalten in Krankheiten).

mus nicht mehr verwertet werden können, werden in diesen aus dem Blut abgesondert und bilden in ihrer Gesamtheit den H. Die Harnabsonderung geht nur dann vor sich, wenn ein lebhafter Strom arteriellen Bluts unter einem gewissen Druck die Nieren durchströmt. Bei Herabsetzung des Druckes in der Nierenarterie sinkt die Harnabsonderung mehr und mehr, und man erreicht schließlich eine Grenze, bei der sie völlig aufhört. Diese ist erreicht, sobald der Blutdruck unter 40 mm Quecksilber sinkt. Durch Vermehrung des Druckes kann man die Harnsekretion wesentlich vergrößern. Auch die ausgeschnittene frische Niere liefert noch H., sobald man dieses Organ mit einem unter genügendem Druck stehenden Strom arteriellen Bluts künstlich speist.

Der Druckunterschied zwischen dem Inhalt der Gefäßknäuel der Niere (s. d.) und demjenigen der Harnkanälchen gibt die wesentlichste Ursache für die Harnabsonderung ab. Der aus den Gefäßknäueln abfiltrierte H. ist zunächst sehr wasserreich; er gelangt in diesem Zustand in die Harnkanälchen und tritt in diesem Abschnitt der Niere in sehr innige Beziehung zum Blutstrom. Die mit äußerst zarten Wandungen versehenen gewundenen Harnkanälchen werden von einem so außerordentlich reichen Blutgefäßnetz umsponnen, daß zwischen beiden Flüssigkeiten ein lebhafter endosmotischer Austausch stattfinden kann. Die hier erfolgenden Diffusionsvorgänge bewirken besonders einen Rücktritt von Wasser in das Blut.

Von den Harnkanälchen aus gelangt der H. in das Nierenbecken und wird alsdann von den Harnleitern aufgenommen und in die Harnblase geleitet. Die Fortbewegung des Harns in den Harnleitern geschieht durch peristaltische Bewegung der Muskelwandungen dieser Kanäle. In der Blase sammelt sich der H. bis zur starken Füllung dieses Behälters an; jedes Rückströmen des Sekrets nach den Nieren hin wird durch den schiefwinkeligen Durchtritt der Harnleiter durch die Harnblasenwandung (s. Nieren) verhindert. Die Entleerung des Harns erfolgt willkürlich durch Zusammenziehung der in der Blasenwandung gelegenen starken Muskulatur, welche in ihrer Gesamtheit den Detrusor urinae bildet. Dieser Muskel vermag die Blase vollständig zu leeren. Die Entleerung der Blase wird durch die Thätigkeit der Bauchpresse unterstützt. Den Blasenhals umgebende, kreisförmig angeordnete Muskelbündel, die man in ihrer Gesamtheit als Schließmuskel der Blase bezeichnet, halten die Blase willkürlich geschlossen. Dieser Verschluß wird durch Nervenfasern vermittelt, welche von einer zwischen dem sechsten und siebenten Brustwirbel gelegenen Stelle des Rückenmarks aus innerviert werden. Wird das Rückenmark unterhalb dieser Stelle zerstört, so erschlafft der Schließmuskel, und der H. fließt jetzt tropfenweise in dem Maß ab, wie er in der Niere gebildet wird. Hat sich die Blase entleert, so werden die in der Harnröhre befindlichen letzten Tropfen H. durch Kontraktion von Muskeln, welche die Harnröhre umgeben, ausgetrieben.

Das Verhalten des Harns in Krankheiten

bietet große Verschiedenheiten dar und ist für den Arzt ein wichtiges Hilfsmittel zur Erkennung und Beurteilung zahlreicher krankhafter Zustände und Vorgänge im Körper. Nicht bloß bei den Krankheiten der Harnorgane selbst kann man aus der Beschaffenheit des Harns die wertvollsten Aufschlüsse gewinnen. Bei den innigen Beziehungen, in welchen der H. zu dem Stoffwechsel im Tierkörper steht, wird man vielfach aus den Abweichungen des Harns von der Norm auf Störungen im Ernährungsvorgang des Gesamtorganismus zurückschließen können. Von alters her haben sich die Ärzte wie Laien gewöhnt, bei jeder Krankheit den H. des Patienten zu betrachten. Allein diese Uroskopie oder Betrachtung des Harns mit dem bloßen Auge reicht nicht aus. Es wird in der Regel die chemische und in vielen Fällen auch die mikroskopische Untersuchung des Harns vorgenommen werden müssen, wenn man gründlichen Aufschluß über die Natur des vorliegenden Leidens erlangen will. Die Abweichungen des Harns von der Norm betreffen teils die Quantität, teils die Qualität desselben. Die Abweichungen der Quantität stellen sich als exzessive Vermehrung oder Verminderung der täglichen Harnmengen dar. Eine vorübergehende Vermehrung beobachtet man unter anderm nach dem Gebrauch harntreibender Mittel (Diuretica) und, von seiten des Nervensystems angeregt, bei hysterischen und andern Krampfanfällen (Urina spastica). Andauernde Harnvermehrung kommt infolge der Polydipsie, d. h. des krankhaften Durstes, vor und weiterhin namentlich bei der sogen. Harnruhr (s. d.). Verminderte Harnausscheidung kann bis zur völligen Unterdrückung der Harnsekretion führen (Anurie). Dieser höchst gefährliche Zufall ist fast stets die Folge schwerer Nierenentzündungen und führt durch Urämie und Hirnlähmung zum Tod, wenn die Harnbildung in den Nieren sich nicht bald wieder einstellt. Von den qualitativen Abweichungen des Harns sind zunächst diejenigen der Farbe zu erwähnen. Einen sehr blassen H. sehen wir nach vielem Trinken und bei vermindertem Stoffumsatz, z. B. bei Blutarmut und Bleichsucht. Eine gesättigt rotgelbe, selbst braunrote Farbe, welche von reichlich vorhandenem normalen Harnfarbstoff herrührt, beobachten wir bei fieberhaften Krankheiten. Durch Beimischung von Blut oder gelöstem Blutfarbstoff (s. Blutharnen) bekommt der H. eine schmutzigrote bis schwärzliche Farbe. Gallenfarbstoff (bei der Gelbsucht) färbt den H. bräunlich, schwarzbraun oder schwarzgrün; der Schaum solchen Harns ist ebenso, aber weniger intensiv gefärbt. Viele Farbstoffe, welche teils mit Speise und Getränk, teils mit Arzneien in den Organismus eingeführt werden, erscheinen im H. wieder und verändern dessen Farbe. Dies ist an sich ohne Bedeutung, kann aber zu bedenklichen Irrtümern veranlassen. Zu erwähnen ist die blutrote Farbe, welche der H. nach dem Gebrauch von Rhabarber, Sennesblättern und Santonin annimmt, bei welcher man an blutige Beimischungen denken könnte. Abnorme Reaktionen des Harns sind nur in dem Fall von Belang, wo der H. schon bei seiner Entleerung aus der Blase alkalisch reagiert. Der frisch gelassene H. reagiert vorübergehend alkalisch, wenn größere Mengen von Alkalien als Arznei oder mit der Nahrung (z. B. beim Obstgenuß) in das Blut aufgenommen worden sind. Die anhaltende Alkalinität des frischen Harns bedeutet, daß krankhafte Zersetzungen des Harns schon in der Blase eingeleitet worden sind, und zwar geschieht dies bei Blasenkatarrhen, bei Entzündungen des Nierenbeckens und der Blase, bei Harnverhaltung etc. Sehr wichtig, aber meist nur durch umständlichere Methoden festzustellen sind diejenigen Veränderungen des Harns, welche sich auf die relativen Mengenverhältnisse einzelner seiner Bestandteile beziehen. Der Gehalt des Harns an Harnstoff ist vergrößert bei vermehrter Eiweißzufuhr, verringert bei Herabminderung des Stoffwechsels, bei verminderter Aufnahme von stickstoffhaltiger Nahrung. Vermehrung der Harnsaure und Ausscheidung derselben in Form von Sedimenten