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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Harnruhr

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Harnruhr.

Strikturen. In letzterm Fall kann die Urethrotomie nicht allein von außen durch die gesunde Haut hindurch, sondern auch die sogen. innere Urethrotomie ausgeführt werden, d. h. Spaltung der Schleimhaut allein von innen her. Namentlich bei dieser Urethrotomia interna besteht die Gefahr der Urininfiltration. Nach dem äußern H. bleibt nicht selten eine Urinfistel (s. d.) zurück.

Harnruhr (Diabetes) bezeichnet zwei große Gruppen von Krankheiten des gesamten Stoffwechsels, deren hauptsächlichstes Merkmal in einer Vermehrung der Harnmenge (Polyurie) besteht. Bei der ersten, der Zuckerharnruhr (Diabetes mellitus), ist die tägliche Menge des Harns meistens auf das Doppelte oder Dreifache vermehrt; zuweilen ist die Polyurie geringer, aber das Wesentliche dieser Form der H. beruht auf dem Gehalt des Harns an gärungsfähigem Traubenzucker, seltener an nicht gärungsfähigem Muskelzucker (Inosit). Diesem Zuckergehalt entsprechend, zeigt der Harn ein hohes spezifisches Gewicht von 1020-1050 und darüber. Bei der zweiten Form der H., dem Diabetes insipidus (geschmacklose, d. h. nicht süß schmeckende, H.), steigt die Harnmenge oft auf 10-15 Lit. täglich, der Harn ist farblos, kaum spezifisch schwerer als Wasser, er wiegt ca. 1005, enthält keine abnormen Bestandteile. In sehr seltenen Fällen geht die erste Form der H. in die zweite über, sonst sind es durchaus verschiedene, nach Ursprung und Wesen noch wenig bekannte Prozesse.

1) Die Zuckerharnruhr beruht auf einer Vermehrung des schon im normalen Blut vorhandenen Zuckers von 0,1 Proz. auf 0,3 Proz. und darüber, wobei der überschüssige Zucker durch die Nieren ausgeschieden wird. Nicht jede solche Zuckerausscheidung ist eine H., sondern man bezeichnet leichte Grade derselben und vorübergehende Zustände der Art, wie sie bei Vergiftungen mit Curare, Kohlenoxydgas, Amylnitrit, Orthonitrophenylpropiolsäure, Methyldelphinin, Blausäure, Schwefelsäure, Morphium, Chloralhydrat, Quecksilber, Alkohol oder bei Cholera, Milzbrand, Scharlach etc. zuweilen vorkommen, als Glykosurie oder als Meliturie. Dennoch ist eine scharfe Grenze nicht zu ziehen, da eine Glykosurie bei Neuralgien oder Gehirnerschütterung zuweilen in wirklichen Diabetes mellitus übergeht. Die Krankheit betrifft vorzugsweise das höhere Lebensalter vom 40.-60. Jahr, kommt jedoch in besonders schwerer Form zuweilen im 10.-20. Lebensjahr vor; fast zwei Dritteile fallen auf das männliche Geschlecht. Unter den Ursachen gelten Erblichkeit, Störung der Nerventhätigkeit, heftige und dauernde Gemütsbewegungen, Kopfverletzungen, Erkältungskrankheiten, Syphilis, Gicht als nähere oder entferntere Anlässe, ohne daß über den Zusammenhang Klarheit bestände.

Die Dauer der H. schwankt zwischen einigen Monaten und vielen Jahren, die schweren Fälle enden nach 1-2 Jahren tödlich, die Gefahr ist bei jugendlichen Personen im allgemeinen weit größer als im Alter. Der Verlauf beginnt oft unmerklich, so daß die Krankheit meistens erst erkannt wird, wenn einer der Folgezustände der H. auftritt, sei es der Marasmus oder Karbunkel oder Juckreiz an den Genitalien, Sehstörungen, Nierenentzündung, Lungenbrand oder Lungenschwindsucht. Bei vielen Kranken machen sich sehr starker Durst, Heißhunger und ein eigentümlicher Apfelgeruch des Atems (Acetonämie) bemerkbar. Sobald der Zuckergehalt im Harn festgestellt ist (s. Zuckerprobe), richtet sich die Aufmerksamkeit vorwiegend auf die Nahrung, aus welcher Zucker und zuckerbildende Substanzen, Stärke, Kartoffeln, Brot soweit wie möglich entfernt werden müssen, da es wahrscheinlich ist, daß der Zucker der Nahrung die Leber unverbraucht und unzersetzt passiert und direkt ins Blut und dann in den Harn übergeht. Durch richtige Diät läßt sich oft ein Zuckergehalt von 7 Proz. und mehr auf 1 Proz. oder bis auf Spuren herabsetzen. In leichten Fällen verschwindet der Zucker auch wohl ganz oder kehrt erst nach Monaten wieder, wenn die Kranken inzwischen die strenge Diät verlassen haben (intermittierender Diabetes). Die H. endet in einer Minderzahl von Fällen mit völliger Heilung, meistens führt sie nach längerm Verlauf zum Tod. Ein Teil der Kranken erliegt einem der aufgezählten Folgezustände, namentlich der Schwindsucht, ein andrer geht an einem Schlaganfall (Gehirnblutung) zu Grunde, in den akuten Fällen tritt der Tod ein während eines Anfalls schwerer Bewußtlosigkeit (Coma diabeticum). Kein Organ zeigt eine ganz bestimmte, nur der H. eigentümliche Veränderung, namentlich erweist sich die Leber, das Hauptorgan für die Glykogenbildung, meist ganz normal, nur in den Nieren findet sich eine abnorme Abscheidung von Glykogen. In manchen Fällen kommen Blutungen im vierten Gehirnventrikel zur Beobachtung nahe dem Ursprung des Nervus Vagus, welcher die Herzthätigkeit regelt und auch die Atmung und Verdauung beeinflußt; dieser Befund ist deshalb besonders bemerkenswert, als es Claude Bernard gelungen ist, bei Tieren durch Verletzung dieser Stelle künstlich H. hervorzurufen. Was die Behandlung der Zuckerharnruhr betrifft, so sind die verschiedensten Mittel und Kurmethoden in der Hauptsache erfolglos angewendet worden. Von günstigem Einfluß (aber sehr gegen die Neigung der Kranken) ist es, wenn sich dieselben an eine vorzugsweise animalische Kost halten und möglichst wenig stärkemehl- und zuckerhaltige Nahrung zu sich nehmen. Als Ersatz des Zuckers ist das intensiv süß schmeckende Saccharin empfohlen worden. Unter den Arzneimitteln bewirken neben Opiaten die kohlensauren Alkalien eine sichere, aber geringe Verminderung der Zuckerausscheidung. Im besten Ruf steht der Gebrauch der Quellen von Karlsbad und Vichy. Bei einer mehrwöchentlichen Trinkkur in Karlsbad verschwindet der Zucker aus dem Harn, das Körpergewicht nimmt zu, Durst und Urinabscheidung vermindern sich. Freilich ist dieser Erfolg ein nur vorübergehender. Radikalmittel gibt es bis jetzt nicht.

2) Die geschmacklose H. (Diabetes insipidus) besteht gleichfalls in überreichlicher Harnausscheidung und maßlosem Durst, aber der Harn enthält weder Zucker noch andre fremdartige Bestandteile. Da auch diese Form der H. nicht an die Erkrankung eines bestimmten Organs gebunden ist, so bestehen über ihr Wesen nur Vermutungen; sie kommt bei Männern öfter vor als bei Frauen, in früher Lebenszeit öfter als im Alter. Durch Haut und Lungen scheiden die Kranken nur sehr wenig Flüssigkeit aus. Dabei trinken sie angeblich 60-80 Schoppen in 24 Stunden. Auch das Hungergefühl ist bei der geschmacklosen H. beträchtlich gesteigert. Bei manchen Kranken bleiben das Allgemeinbefinden und der Zustand ihrer Kräfte längere Zeit hindurch ungestört. Bei andern treten frühzeitig Verdauungsbeschwerden, Magenschmerz, Erbrechen, unregelmäßiger Stuhlgang, Abmagerung und Schwächegefühl auf. Verlauf und Dauer der Krankheit sind verschieden. Bald entwickelt sie sich allmählich, bald tritt sie plötzlich ein. Häufig kommen vorübergehende Besserungen vor. Gewöhnlich dauert die Krankheit viele Jahre an, ohne das Leben zu be-^[folgende Seite]