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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Haydn

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Haydn.

meister, seinem Vetter, wo er, neben Lesen, Schreiben und dem Katechismus, Singen sowie fast alle Blas- und Saiteninstrumente spielen lernte. Nach etwa drei Jahren als Chorknabe für die Musikaufführungen in der Stephanskirche zu Wien mit vorgeschlagen, bestand er die Probe und trat nun als Schüler in das Kapellhaus der Stephanskirche ein, wo er bis zum 16. Jahr blieb und durch den Kapellmeister Reuter neben gründlichem Gesangunterricht auch Anregung zum Kompositionsstudium erhielt. Weitere Belehrung auf letzterm Gebiet schöpfte er privatim aus Matthesons "Vollkommenem Kapellmeister" und Fux' "Gradus ad Parnassum", und in seinem Produktionsdrang wagte er sich bald an 8- und 16stimmige Sätze. Mit dem 16. Jahr wurde er, weil seine Stimme gebrochen war, entlassen und mußte sich nun auf eigne Hand fortzubringen suchen. Er gab Lektionen, spielte bei Nachtständchen und in Orchestern um Geld, übte sich dabei fleißig in der Komposition und beneidete, nach seinem eignen Ausdruck, keinen König, wenn er an seinem alten, von Würmern zerfressenen Klavier saß. Seine äußere Stellung wurde indessen immer mißlicher, und er sah sich dem bittersten Mangel ausgesetzt, als ihm 1751 ein günstiger Zufall zur Bekanntschaft mit dem Dichter Metastasio und durch diesen mit dem neapolitanischen Komponisten und Gesanglehrer Porpora verhalf, welch letzterer ihm vielfach die Klavierbegleitung bei seinen Lektionen übertrug, wofür H. sich dazu verstehen mußte, von ihm als Bedienter benutzt zu werden - eine Rolle, die er übrigens um so williger durchführte, als er dem Umgang mit Porpora neben materiellen Vorteilen noch den künstlerischen verdankte, die italienische Gesangs- und Kompositionsmethode gründlich kennen zu lernen. Um diese Zeit entstanden seine ersten Klaviersonaten, Trios und Serenaden, im folgenden Jahr (1753) auch seine erste Oper: "Der krumme Teufel", welche indessen keine Verbreitung fand, da sie als Satire auf den hinkenden Theaterdirektor Affligio schon nach der dritten Aufführung verboten wurde; endlich schrieb er auch im genannten Jahr sein erstes Streichquartett, in welcher Kunstgattung er später das Höchste zu leisten berufen war. Nachdem inzwischen verschiedene seiner Arbeiten ohne sein Zuthun in den Handel gelangt waren, erhielt er 1759 seine erste Anstellung als Musikdirektor des Grafen Morzin, für dessen Kapelle er seine erste Symphonie in D dur schrieb. Jetzt, auf seinen geringen festen Gehalt fußend, wagte er die Tochter eines Friseurs Keller, der sich früher seiner angenommen hatte, zu heiraten; die Ehe war aber nicht glücklich. Kinder- und liebelos dauerte sie bis 1800, wo die Frau in Baden bei Wien starb. 1760 ward H. Kapellmeister des Fürsten Esterházy mit 400 Gulden Gehalt und der besten Gelegenheit, nach allen Seiten hin sein Talent zu bewähren. Der Fürst hatte eine eigne Opern-, Konzert- und Kirchenmusik, und H. stand allem vor, mußte schreiben, einstudieren, dirigieren, Unterricht geben, sogar seinen Flügel im Orchester stimmen. Dreißig Jahre lang, bis zum Tode des Fürsten 1790, wo die Kapelle aufgelöst wurde, befand sich H. wohl in dieser wenn auch äußerlich nicht glänzenden, doch seinem freudigen Schaffensdrang vollauf genügenden Lage. Während dieser Zeit meist zu Eisenstadt in Ungarn und nur im Winter zwei oder drei Monate in Wien lebend, schuf er die Mehrzahl seiner Symphonien, viele Quartette, Trios, Konzerte etc., die Kompositionen für das Baryton (eine Art Violoncell, das Lieblingsinstrument des Fürsten), 18 Opern, das Oratorium "Il ritorno di Tobia" (1774), Messen und sonstige Kirchenstücke, zahlreiche Lieder etc. Auch eine Musik zu Goethes "Götz von Berlichingen" und die Komposition der "Sieben Worte" entstanden in dieser Epoche. Unterdes war Haydns Ruhm auch ins Ausland gedrungen, obschon er selbst kaum etwas davon wußte. Man riet ihm, nach Italien und Frankreich zu ziehen, um sich vorzüglich der Oper zu widmen; allein erst nach dem Tode des Fürsten Esterházy überwand er seine Scheu vor der Fremde und ließ sich von dem englischen Konzertunternehmer Salomon (s. d.), welcher sich gerade auf der Rückreise aus Deutschland nach London befand, bewegen, ihn dorthin zu begleiten. Hiermit begann für H. die Zeit der eigentlichen Ernte und zugleich die Periode seiner größten Schöpfungen. Während dieses ersten Aufenthalts und eines zweiten 1794 und 1795 (im ganzen etwa drei Jahre) in London schrieb er die Oper "Orfeo ed Euridice", seine zwölf sogen. englischen Symphonien, Quartette und viele andre geistliche und weltliche Sachen. Daneben mußte er unaufhörlich in Konzerten und Gesellschaften dirigieren, spielen und singen, unterrichten, Besuche machen und empfangen und endlose Ehren- und Liebesbezeigungen, darunter seine Ernennung zum Doktor der Musik von seiten der Universität Oxford, entgegennehmen. Reich belohnt und ehrenvoll anerkannt wie selten ein Künstler, kehrte H. nach Wien zurück. Auch die Anregung zu seinem erfolgreichsten Werk, dem Oratorium "Die Schöpfung", verdankt er jenem Aufenthalt in England; den ihm vom dortigen Dichter Lidley anvertrauten Text brachte er nach Wien, ließ ihn, da er der englischen Sprache nicht hinreichend mächtig war, um das Original zu komponieren, vom Freiherrn van Swieten frei ins Deutsche übersetzen und vollendete die Komposition 1798. Der glänzende Erfolg der "Schöpfung" bei ihrer ersten Aufführung in Wien 1799, welcher sich unmittelbar darauf in allen Hauptstädten Europas wiederholte, veranlaßte den Künstler, noch ein zweites gleichartiges Werk zu schreiben, und so entstanden 1800 "Die Jahreszeiten" (nach Thomsons Lehrgedicht "The seasons"), eine Arbeit, welche mit ihrer Frische und Jugendkraft die 68 Jahre ihres Autors nirgends spüren läßt. Nach der Vollendung dieses mit gleichem Beifall wie die "Schöpfung" aufgenommenen Oratoriums schwand seine Produktionskraft mehr und mehr; 1803 beschloß er seine schöpferische Thätigkeit mit dem 83., unvollendet gebliebenen Streichquartett, dann genoß er noch sechs Jahre, als Künstler wie als Mensch hochverehrt, auf sein kleines Besitztum in der Wiener Vorstadt Gumpendorf zurückgezogen, der Ruhe bis zu seinem am 31. Mai 1809 während des Einzugs der französischen Armee erfolgten Tod. Vor der Mariahilfer Kirche zu Wien wurde ihm 1887 ein Marmordenkmal (von Natter) errichtet.

Ungeachtet des wohlverdienten Ruhms, den sich H. als Vokalkomponist erworben, liegt doch seine Hauptstärke in der Instrumentalmusik, deren Formen er zwar bereits fertig vorfand, ihre Entwickelung von innen heraus jedoch so kräftig und liebevoll förderte, daß er mit Recht als der Schöpfer der modernen Instrumentalmusik gelten darf. Namentlich danken ihm die Orchestersymphonie und das Streichquartett ihre Ausbildung, in welchen beiden Gattungen seine hohe Meisterschaft in der thematischen Arbeit, der Kunst, aus einem manchmal unscheinbaren Motivkern die reichsten musikalischen Gebilde erstehen zu lassen, sich glänzend bewährte. Bei aller Natürlichkeit und allem Reichtum der Erfindung weiß er stets Maß zu halten, so daß seine Arbeiten hinsichtlich der Formvollendung und wahrhaft klassischen innern Harmonie selbst von