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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Heimat

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Heimat.

an die Städte die Fürsorgepflicht für Arme und Obdachlose immer dringender heran, während im Mittelalter die Unterstützung der Armen wesentlich Sache der Kirche gewesen war, ein Zustand, der noch jetzt in Elsaß-Lothringen der herrschende ist. Die Gemeinden sahen sich nunmehr zu Maßregeln veranlaßt, durch welche einer übermäßigen Armenbelastung vorgebeugt werden sollte. Reichs- und Landesgesetze wurden gegen das Vagabunden- und Bettlerwesen erlassen. Ausweisung gegen fremde Arme wurde verfügt, die Begründung eines eignen Hausstandes erschwert und die Verehelichung von obrigkeitlicher Zustimmung abhängig gemacht. Das Bürgerrecht wurde mehr und mehr als eine Quelle privaten Vorteils angesehen, denn die Teilnahme an den bürgerlichen Nutzungsrechten der Gemeinde und die bürgerliche Nahrung innerhalb derselben erschienen als wesentlicher Inhalt des Gemeindebürgerrechts, dessen Gewinnung für die in der fraglichen Gemeinde heimatsberechtigten Personen leichter war als für den Fremden, außerhalb der Gemeinde Stehenden. Auch der Erwerb von Grundstücken innerhalb des Gemeindegebiets war vielfach nur Bürgern gestattet. Die Landgemeinden aber folgten zumeist dem Beispiel der Städte, schlossen sich immer enger und engherziger ab und machten denjenigen, welche in der Gemeinde nicht heimatsberechtigt, die Aufnahme möglichst schwer. Auch nach der Aufhebung der Leibeigenschaft in Deutschland blieb das Heimatsrecht von entscheidender Bedeutung. Um ein allzu starkes Anwachsen der Armenlast möglichst zu verhindern, wurde der Erwerb der Gemeindeangehörigkeit durch die Landesgesetzgebung thunlichst erschwert. Der Umstand, daß Deutschland im großen und ganzen doch ein armes Land war, aber auch die Zerrissenheit desselben in politischer Hinsicht machen dies erklärlich. Der Mangel einer einheitlichen Gesetzgebung ist namentlich auf diesem Gebiet schroff zu Tage getreten. Die Heimatsgesetzgebung der deutschen Klein- und Mittelstaaten ist noch in diesem Jahrhundert trotz größerer Verkehrsfreiheit eine engherzige. Das Heimatsrecht wurde regelmäßig durch Geburt, Aufnahme, Verheiratung und Anstellung in einem öffentlichen Amt erworben. Der Verlust trat nur infolge des Erwerbs einer anderweiten Staatsangehörigkeit oder infolge des Erwerbs eines anderweiten Heimatsrechts ein. Der bloße Wegzug aus einer Gemeinde in die andre hatte den Verlust des Heimatsrechts nicht zur Folge, vielmehr mußte die Heimatsgemeinde den verarmten Heimatsberechtigten nötigen Falls wieder an- und aufnehmen. Die Befugnis zur Verehelichung war von dem Besitz des Heimatsrechts und von der Zustimmung der Heimatsbehörde abhängig. Das Recht, Grundbesitz zu erwerben und ein bürgerliches Gewerbe zu treiben, war durch das Heimatsrecht bedingt. Die Gewinnung des Gemeindebürgerrechts war den Heimatsberechtigten vielfach gegen ein geringeres Bürgergeld gestattet. Personen, welche in einer Gemeinde nicht heimatsberechtigt, hatten auf den Aufenthalt in der Gemeinde kein Recht. Schon die bloße Befürchtung künftiger Verarmung berechtigte zu ihrer Ausweisung. Dagegen hat das preußische Recht den Begriff des Heimatsrechts nicht weiter entwickelt. Jedem Preußen ward das Recht gewährleistet, an dem Ort sich aufzuhalten, wo er eine eigne Wohnung oder ein Unterkommen zu finden im stande war. Wer nach erlangter Großjährigkeit drei Jahre lang an einem Ort seinen Aufenthalt gehabt hatte, mußte im Fall der Verarmung dort unterstützt werden. Dabei war seit dem Anfang dieses Jahrhunderts die volle Verehelichungsfreiheit in Preußen eingeführt. Über die Aufnahme Auszuweisender hatten die deutschen Staaten eine Vereinbarung getroffen, den sogen. Gothaer Vertrag vom 15. Juli 1851 (s. Ausweisung). Ein weiterer Vertrag (die sogen. Eisenacher Konvention) vom 11. Juli 1853 verpflichtete die deutschen Staaten, ihre erkrankten hilfsbedürftigen Angehörigen wechselseitig zu verpflegen und im Fall des Todes ohne Ersatzanspruch auch zu beerdigen.

Das Heimatswesen nach deutschem Reichsrecht.

Durch die Gründung des Norddeutschen Bundes und des nunmehrigen Deutschen Reichs erfuhr das Heimats- und Niederlassungsrecht in Deutschland eine wesentliche Umgestaltung und eine nahezu einheitliche Regelung durch die Ausdehnung des preußischen Systems auf das Reichsgebiet. Art. 3 der deutschen Reichsverfassung vom 16. April 1871 bestimmt nämlich nach dem Vorgang der norddeutschen Bundesverfassung, daß für ganz Deutschland ein gemeinsames Indigenat bestehe mit der Wirkung, daß der Angehörige eines jeden Bundesstaats in jedem andern Bundesstaat als Inländer zu behandeln und demgemäß zum festen Wohnsitz, zum Gewerbebetrieb, zu öffentlichen Ämtern, zur Erwerbung von Grundstücken, zur Erlangung des Staatsbürgerrechts und zum Genuß aller sonstigen bürgerlichen Rechte unter denselben Voraussetzungen wie der Einheimische zuzulassen, auch in betreff der Rechtsverfolgung und des Rechtsschutzes demselben gleich zu behandeln sei. Diese Bestimmung wurde noch zur Zeit des Norddeutschen Bundes durch eine Reihe von Spezialgesetzen, die nunmehr zu Reichsgesetzen erhoben sind, des nähern ausgeführt; so das Recht der Freizügigkeit (s. d.) durch Gesetz vom 1. Nov. 1867, die Verehelichungsfreiheit durch das (in Bayern und Elsaß-Lothringen nicht eingeführte) Gesetz vom 4. Mai 1868 über die polizeilichen Beschränkungen der Eheschließung, die Gewerbefreiheit durch die Gewerbeordnung vom 21. Juni 1869 (s. Gewerbegesetzgebung, S. 292 ff.) und der gemeinsame Rechtsschutz durch das Gesetz vom 21. Juni 1869, betreffend die Gewährung der Rechtshilfe, während ein Gesetz vom 13. Mai 1870 die Doppelbesteuerung (s. d.) der Bundesangehörigen in verschiedenen Bundesstaaten beseitigte. Hierzu kam das Gesetz vom 1. Juni 1870, welches die Erwerbung und den Verlust der Bundes- und Staatsangehörigkeit für das ganze Bundesgebiet in einheitlicher Weise normierte.

Endlich gehört hierher das (auf Bayern und Elsaß-Lothringen nicht ausgedehnte) Gesetz vom 6. Juni 1870 über den Unterstützungswohnsitz. Letzterer wird durch zweijährigen ununterbrochenen Aufenthalt nach vollendetem 24. Lebensjahr innerhalb des betreffenden Armenverbandes erworben; außerdem teilt die Ehefrau den Unterstützungswohnsitz des Ehemanns, das eheliche Kind den des Vaters und das uneheliche denjenigen der Mutter. Der Verlust des Unterstützungswohnsitzes wird herbeigeführt durch Erwerb eines anderweiten Unterstützungswohnsitzes und durch zweijährige ununterbrochene Abwesenheit nach zurückgelegtem 24. Lebensjahr. Die infolge des Unterstützungswohnsitzes zu gewährende Armenverpflegung ist von den Ortsarmenverbänden und, wenn die Verpflichtung eines solchen nicht erweislich wäre, von dem Landarmenverband zu tragen (s. Unterstützungswohnsitz). Auch die Reichsgewerbeordnung hat auf diesem Gebiet namentlich insofern eingewirkt, als sie die Befugnis zum Gewerbebetrieb von der Gemeindeangehörigkeit und von dem Gemeindebürgerrecht loslöste. Infolge dieser reichsrechtlichen Neu-^[folgende Seite]