Schnellsuche:

Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Hessen

471

Hessen (Großherzogtum: Staatsverfassung und Verwaltung).

und Telegraphenwesen steht unter der Verwaltung des Reichs. Die Länge der im Betrieb befindlichen Eisenbahnen beträgt 837, die der Staatsstraßen 1859 km. Sonstige Förderungsmittel des Handels sind die Bank für Handel und Industrie und die Bank für Süddeutschland (beide zu Darmstadt) sowie die sechs Handelskammern in Darmstadt, Offenbach, Gießen, Mainz, Worms und Bingen. Außerdem befinden sich in H. eine Haupt- (in Mainz) und vier Nebenstellen (in Darmstadt, Offenbach, Gießen und Worms) der Reichsbank. Das in H. seit 1817 bestehende, auf dem metrischen System beruhende Maß- und Gewichtssystem hat durch die Reichsgesetze vom 22. April 1871 und 11. Juli 1884, wodurch für ganz Deutschland einheitliches Maß und Gewicht eingeführt wurde, nur teilweise eingreifende Abänderungen erfahren. Nachdem durch das Reichsmünzgesetz vom 4. Dez. 1871 für das Deutsche Reich die Goldwährung und Markrechnung eingeführt worden ist, hat der Übergang von dem frühern 52½-Guldenfuß zur Reichsmarkrechnung in H. 1. Jan. 1875 stattgefunden.

Von den Humanitäts- und Wohlthätigkeitsanstalten sind hervorzuheben: die Staatsunterstützungskasse in Darmstadt, die schon erwähnte Landeswaisenanstalt, das Landeshospital zu Hofheim, die Landesirrenanstalt zu Heppenheim, die schon genannten Taubstummenanstalten, die Blindenanstalt in Friedberg, das Kaufunger Stift (für arme adlige Töchter), die Ludwigs- und Mathilden-Landesstiftung, verschiedene Witwen-, Sterbe- und Krankenkassen, Krankenhäuser, Entbindungsanstalten, die Idiotenanstalt und die Knabenarbeitsanstalt zu Darmstadt etc.

Staatsverfassung und Verwaltung.

Das souveräne Großherzogtum H., zu einem solchen 1806 erhoben, bildet laut Verfassungsurkunde vom 17. Dez. 1820, als ein unter einer und derselben Verfassung stehendes Ganze, eine unteilbare konstitutionelle Monarchie. Der Landesherr, welcher den Titel "Großherzog von H. und bei Rhein" mit dem Prädikat "Königliche Hoheit" führt, genießt alle mit der königlichen Würde verbundenen Rechte, Ehren und Vorzüge und vereinigt in sich alle Rechte der Staatsgewalt, die er unter den in der Verfassung festgesetzten Bestimmungen auszuüben hat. Er ist das Oberhaupt des großherzoglichen Hauses wie auch der evangelischen Kirche des Landes und bezieht eine Zivilliste von 1,096,288 Mk., welche, gleich den übrigen Bedürfnissen des Hofs, auf die als Familieneigentum anerkannten zwei Drittel der Domänen radiziert ist. Die Regierung ist im großherzoglichen Haus erblich nach Erstgeburt und Linealerbfolge, auf Grund der Abstammung aus ebenbürtiger, mit Bewilligung des Großherzogs geschlossener Ehe. In Ermangelung eines durch Verwandtschaft oder Erbverbrüderung zur Nachfolge berechtigten Prinzen geht die Regierung auf das weibliche Geschlecht über. Beim Erlöschen des Mannesstamms ist zur Thronfolge zunächst H.-Kassel berechtigt, sonst bestehen noch Erbverbrüderungen zwischen den hessischen Häusern, Sachsen und Brandenburg, die zuletzt 1614 erneuert wurden. Gegenwärtiger Regent ist der Großherzog Ludwig IV., der seit 13. Juni 1877 regiert. Alle Staatsbürger sind vor dem Gesetz gleich. Jedem ist vollkommene Gewissensfreiheit zugesichert, und die Freiheit der Person und des Eigentums ist keiner andern Beschränkung unterworfen, als welche Recht und Gesetz bestimmen. Die Verschiedenheit des Religionsbekenntnisses hat keine Verschiedenheit in den politischen und bürgerlichen Rechten zur Folge. Niemand soll seinem gesetzlichen Richter entzogen werden. Die frühern Vorrechte der Standesherren etc., welche in der Ausübung von Hoheitsrechten bestanden, sind seit 1848 erloschen.

Die Stände des Großherzogtums bilden zwei Kammern, über deren Zusammensetzung das Gesetz vom 8. Nov. 1872 neue Bestimmungen enthält. Danach besteht die Erste Kammer aus den Prinzen des großherzoglichen Hauses, den Häuptern der standesherrlichen Familien, dem Senior der freiherrlichen Familie v. Riedesel, einem protestantischen Geistlichen, welchen der Großherzog auf Lebenszeit mit der Würde eines Prälaten ernennt, dem katholischen Landesbischof, dem Kanzler der Landesuniversität, 2 von dem angesessenen Adel aus seiner Mitte gewählten Mitgliedern und aus höchstens 12 vom Großherzog auf Lebenszeit berufenen ausgezeichneten Staatsbürgern. Die Zweite Kammer besteht aus 10 Deputierten der Städte (Darmstadt 2, Mainz 2, Gießen, Offenbach, Friedberg, Alsfeld, Worms, Bingen je 1) und 40 Abgeordneten der kleinern Städte und Landgemeinden. Die Ernennung der Abgeordneten für die Zweite Kammer geschieht durch indirekte Wahl. Der Großherzog beruft, vertagt und löst die Ständeversammlung auf oder schließt dieselbe, die wenigstens alle drei Jahre einberufen werden muß. Erfolgt die Auflösung derselben, so wird binnen sechs Monaten eine neue einberufen, zu welcher neue Wahlen stattfinden müssen. Ohne Zustimmung der Stände kann weder eine direkte noch indirekte Steuer ausgeschrieben oder erhoben werden. Das Finanzgesetz wird auf drei Jahre gegeben und muß zuerst der Zweiten Kammer vorgelegt werden, welche die Beschlüsse zu fassen hat, die von der Ersten Kammer nur im ganzen angenommen oder verworfen werden können. Im letztern Fall wird das Finanzgesetz in einer gemeinschaftlichen Sitzung beider Kammern, unter dem Vorsitz des Präsidenten der Ersten, diskutiert und der Beschluß nach absoluter Stimmenmehrheit gefaßt. Ohne Zustimmung der Stände kann kein Gesetz, auch in Beziehung auf das Polizeiwesen, gegeben, aufgehoben oder abgeändert werden. Das Recht der Initiative steht dem Großherzog zu, während die Stände nur auf dem Weg der Petition auf neue Gesetze oder auf Abänderung und Aufhebung bestehender antragen können. Den Präsidenten der Ersten Kammer ernennt der Großherzog, den der Zweiten wählt derselbe aus drei ihm hierzu vorgeschlagenen Kandidaten. Die Sitzungen der Kammern sind öffentlich. Die Minister sind verantwortlich und können von den Ständekammern in Anklagestand versetzt werden.

Die oberste Staatsbehörde bildet das Staatsministerium. Innerhalb des Staatsministeriums bestehen das Ministerium des Innern und der Justiz und das Ministerium der Finanzen. Der Präsident des Staatsministeriums ist zugleich Minister des großherzoglichen Hauses und des Äußern. Das Ministerium des Innern und der Justiz zerfällt in zwei Sektionen, die Sektion für innere Verwaltung und die Sektion für Justizverwaltung. Bei der Sektion für innere Verwaltung bestehen besondere Ministerialabteilungen für Schulangelegenheiten (an Stelle der frühern Oberstudiendirektion) und für öffentliche Gesundheitspflege (früher Obermedizinaldirektion), bei dem Ministerium der Finanzen eine Abteilung für Bauwesen (früher Oberbaudirektion), eine Abteilung für Forst- und Kameralverwaltung (früher Oberforst- und Domänendirektion) und eine Abteilung für Steuerwesen (früher Obersteuerdirektion).