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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Hessen

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Hessen (Großherzogtum: Geschichte).

zu verlangen, und da dieser als Anhänger der Union und Friedrichs V. von der Pfalz den Zorn des Kaisers Ferdinand II. auf sich gezogen, sprach ihm auch 1623 ein reichshofrätliches Erkenntnis die ganze Erbschaft zu, die er mit Hilfe ligistischer Truppen in Besitz nahm, und in der er statt des reformierten Marburg die lutherische Universität Gießen gründete. Auch erhielt Ludwig V. vom Kaiser die Ermächtigung zur Einführung der Primogenitur in seinem Haus, was das Land vor den verderblichen Teilungen bewahrte. Auf Ludwig V. folgte sein Sohn Georg II., der Gelehrte (1626-61). Während des ganzen Dreißigjährigen Kriegs blieben die Landgrafen von H. der kaiserlichen Partei treu und verfeindeten sich bitter mit ihren Kasselschen Vettern, ohne doch ihr Land vor den Verheerungen des Kriegs bewahren zu können. Auch die kaiserlichen Heerführer konnten in jener schweren Zeit auf des Kaisers Verbündete keine Rücksicht nehmen, so daß der Landgraf Georg zuletzt den Kaiser direkt um Schonung für sein verödetes Land anging. Ferdinand III. willfahrte seinen Bitten, soviel es in seiner Macht stand, mußte es aber geschehen lassen, daß Georg durch Separatverträge mit Frankreich und Schweden sich Schonung seitens der Feinde des Kaisers erkaufte. Hierzu kam der stets erneuerte Erbschaftsstreit mit H.-Kassel. Erst der Westfälische Friede 1648 führte einen Ausgleich zwischen Georg und der Landgräfin Amalie Elisabeth von H.-Kassel, der Vormünderin ihres unmündigen Sohns, auf eine für H.-Darmstadt immerhin noch vorteilhafte Weise herbei, indem dasselbe die größere Hälfte Oberhessens behielt. Die Universität Marburg verblieb unter gemeinschaftlicher Verwaltung; dagegen wurde dem Landgrafen Wilhelm IV. von H.-Kassel, vorbehaltlich der Alternierung, die ihm früher zugestandene Präzedenz im Rang und in der Vertretung nach außen wie im Reich zugestanden. Die folgenden 13 Jahre, das letzte Drittel seiner Regierung, benutzte Georg mit Erfolg, die seinem Lande durch den Krieg geschlagenen Wunden zu heilen.

Sein Sohn Ludwig VI. (1661-78) setzte des Vaters Bemühungen um die Hebung des Landes in materieller und geistiger Beziehung fort durch Begünstigung von Einwanderungen, das Verbot des Kriegsdienstes außer Landes, eine neue Regelung des verfallenen Schul- und Kirchenwesens, eine neue Hofgerichtsordnung etc. Getreu den Traditionen seiner Vorfahren, wußte er aus den Überschüssen seiner Regierung von neuem einen Hausschatz zu sammeln, welcher ihm wie jenen Gelegenheit bot, sein Land durch den Ankauf benachbarter Besitzungen (Eberstadt, Rodau, Frankenstein) noch besser abzurunden. Sein Sohn Ludwig VII. starb als Jüngling 31. Aug. 1678, vier Monate nach Antritt seiner Regierung, und statt des zweiten Bruders, des erst elfjährigen Ernst Ludwig (1678-1738), regierte bis 1688 als Vormünderin die Mutter Elisabeth Dorothea von Sachsen-Gotha. Auch Ernst Ludwig zeichnete sich gleich seinen Vorgängern durch die Standhaftigkeit und Entschiedenheit aus, mit welcher er im Gegensatz zur Kasseler Linie dem kaiserlichen Interesse ergeben war; doch hatte das Land während der Kriege mit Frankreich 1688-1714 viel zu leiden, die Landeshauptstadt ward zweimal von den Franzosen genommen und gebrandschatzt, der Hof zur Flucht nach Oberhessen genötigt. Einigen Ersatz brachten dem Lande die Kolonien der Waldenser zu Rohrbach, Weinbach, Walldorf etc., während der Landgraf den französischen Refugiés aus Furcht vor Ludwig XIV. den Eintritt in sein Land verwehrte. Übrigens ist Ernst Ludwig der erste, der die alte Einfachheit und Wirtschaftlichkeit seines Geschlechts mit dem von Ludwig XIV. aufgebrachten Glanz und Pomp vertauschte. Französische Sitte begann an seinem Hof die gute altdeutsche Einfachheit zu verdrängen. Bauten, Theater und die Begünstigung aller schönen Künste verschlangen nicht nur die Ersparnisse der frühern Zeiten, sondern stürzten auch das Land zum erstenmal in Schulden. Seinem Beispiel folgte auch sein Sohn Ludwig VIII. (1738-68), der, obwohl er schon als Erbprinz durch Vermählung mit der Erbtochter des letzten Grafen von Hanau Lichtenberg über ein Einkommen von 300,000 Gulden verfügte, das sich nach dem Anfall der größern Hälfte der Erbschaft (die kleinere fiel nach 20jährigem Erbstreit an H.-Kassel) noch bedeutend erhöhte, doch infolge übermäßiger Jagdlust und der Vergeudung großer Summen für Oper und Schauspiel sich selbst und das Land in große Schulden stürzte. In der äußern Politik schloß auch er sich ganz an Österreich an und hatte daher im österreichischen Erbfolgekrieg von den französischen Heeren zu leiden, dann im Siebenjährigen Krieg französische Besatzungen in seine Festungen aufzunehmen.

Sein Sohn Ludwig IX. (1768-90) war in manchen Stücken das Gegenteil seines Vaters, einfach, abgehärtet, ein großer Soldatenfreund und Freund Friedrichs II. Er ließ es sich angelegen sein, durch ein strenges, thätiges, selbstherrliches Regiment das, was sein Vater verschuldet, wieder gutzumachen, und es gelang ihm wirklich, die zerrütteten Finanzen wieder in Ordnung zu bringen. Seine Residenz Pirmasens, Mittelpunkt der hanau-lichtenbergischen Besitzungen, die er zu Lebzeiten seines Vaters verwaltet hatte, behielt er auch während der ganzen Dauer seiner Regierung bei und that viel zur Hebung der Bevölkerung und der Kultur dieser Lande. Sein aufgeklärtes Regiment schaffte eine Menge von Mißbräuchen, besonders in der Justiz, ab; er beseitigte den unter der Herrschaft seines Vaters eingerissenen Jagdunfug und suchte durch die Regelung der Verwaltung, durch die Heranziehung trefflicher Beamten und Gelehrten aus Nord- und Mitteldeutschland sein Land auf die Höhe Preußens zu bringen. Sein Hof war der Sammelpunkt der hervorragendsten deutschen Künstler und Dichter, die schönste Zierde desselben seine Gemahlin, die vortreffliche Karoline von Pfalz-Zweibrücken, die "große Landgräfin", die Freundin Friedrichs d. Gr. Gegen das Ende seiner Regierung, kurz nach dem Ausbruch der französischen Revolution, verlor der Landgraf durch Beschluß der französischen Nationalversammlung seine Rechte und Einkünfte aus dem im Elsaß belegenen Teil der hanauischen Besitzungen (Buchsweiler, Brumath, Pfaffenhofen etc.). Sein Sohn Ludwig X. (1790 bis 1830) schloß sich den Heeren der alliierten Preußen und Österreicher (1792) an, als es galt, die französische Revolution zu bekämpfen und die ihm entrissene Grafschaft Hanau-Lichtenberg wiederzuerlangen. Doch sah er sich beim Rückzug der Alliierten 1793 genötigt, der feindlichen Übermacht zu weichen. Das ganze Land wurde gleich den Nachbargebieten von den Franzosen besetzt und gebrandschatzt; die aus dem Land fortgeführten Männer bürgten als Geiseln für die Neutralität von Fürst und Land. Der Friede von Lüneville (1801) brachte ihm als Entschädigung für die an Frankreich abgetretenen linksrheinischen und einige andre an Baden und Nassau-Usingen abgetretene Lande das Herzogtum West-^[folgende Seite]