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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Hessen

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Hessen (Großherzogtum: Geschichte).

da, wo es noch nicht bestand, schnell und glücklich durch. Indes schon im Juli 1850 wurde das Ministerium Jaup wieder gestürzt; den ostensibeln Vorwand zu seiner Entlassung gab seine preußenfreundliche Haltung in der deutschen Frage, welche auch in den Kammern getadelt wurde und inzwischen durch Preußens Zurückweichen unterlegen war. Jaup wurde durch Dalwigk ersetzt, welcher zunächst Österreich bei der Restauration des Bundestags eifrig unterstützte und mit diesem und dem Bischof Ketteler von Mainz im Bund sofort einen Verfassungskonflikt mit dem Landtag begann, während dessen wichtige 1848 erworbene Rechte, wie namentlich das Vereinsrecht, ohne weiteres aufgehoben und namentlich die Beamten durch allerlei direkte und indirekte Gewaltmaßregeln zur Unterwürfigkeit gezwungen wurden. Die katholische Kirche in H. und die staatlichen Aufsichtsrechte über dieselbe überlieferte Dalwigk durch die geheime Konvention vom 23. Aug. 1854 gänzlich dem Mainzer Bischof, der nun ungehindert sein hierarchisch-jesuitisches System durchführen konnte. Die Proteste der Kammern gegen dieses gewissenlose Verfahren der Regierung blieben gänzlich erfolglos, außer daß Dalwigk die Konvention 1862 veröffentlichen mußte. Der Pakt selbst blieb nach wie vor bestehen.

In der deutschen Frage war Dalwigk einer der eifrigsten Verfechter der preußenfeindlichen mittelstaatlichen Politik sowohl in der Bundesreformfrage als in der schleswig-holsteinischen Verwickelung; in jener unterstützte er Österreich, in dieser trat er energisch für den Augustenburger auf. Auch mit dem Hof Napoleons III. stand er in ununterbrochener Verbindung. Natürlich stimmte unter Dalwigks Leitung H. 14. Juni 1866 für die Mobilmachung der Bundesarmee gegen Preußen und ließ, obwohl die Kammern den Kriegskredit verweigerten, sein Kontingent zum 8. Bundeskorps stoßen, dessen Oberbefehl der hessische Prinz Alexander erhielt. Die hessischen Truppen erlitten durch die Ungeschicklichkeit ihrer Führer 13. Juli bei Laufach eine blutige Niederlage, und nach dem Gefecht bei Aschaffenburg wurde fast ganz H. von den Preußen okkupiert, während der Großherzog nach Worms floh. Dennoch blieben die alten Minister auch nach dem Ende des Kriegs in ihrer Stellung, und gerade Dalwigk war zur Führung der Friedensunterhandlungen ausersehen, die wohl für das Land noch härter ausgefallen wären, wenn nicht die nahe Verwandtschaft seines Herrscherhauses mit Rußland und England dem Sieger einige Rücksichten auferlegt hätte; die von Dalwigk angerufene französische Intervention war daher überflüssig. Die Hauptbestimmungen des am 3. Sept. abgeschlossenen Vertrags waren: Zahlung von 3 Mill. Gulden Kriegskosten; Abtretung des Gebiets der erst im März an H. gefallenen Landgrafschaft Homburg mit der Herrschaft Meisenheim, ferner der Kreise Biedenkopf und Wehl, des nordwestlichen Teils vom Kreis Gießen, des Ortsbezirks Rödelheim sowie endlich des hessischen Anteils am Ortsbezirk Niederursel. Im ganzen kamen, abgesehen von Homburg und Meisenheim, beinahe 830 qkm des ehemals hessischen Gebiets mit mehr denn 47,000 Einw. an Preußen. Dagegen überließ dieses letztere Katzenberg, Nauheim, Reichelsheim, Trais, Dortelweil und Haarheim, etwa 83 qkm mit 12,000 Einw., an H. Ferner mußte H. für Oberhessen dem Norddeutschen Bund beitreten, das Post- und Telegraphenwesen an Preußen überlassen, diesem das Besatzungsrecht in Mainz einräumen und in die Aufhebung der Rheinschiffahrtsakte willigen. Die Bevölkerung war meistens mit diesem Ergebnis des Kriegs einverstanden und erwartete nun auch eine Änderung in der innern Politik. Indes hier machte Dalwigk bloß das Zugeständnis der Suspension des Vertrags mit Ketteler von 1854, der thatsächlich doch bestehen blieb. Sonst trat er den Kammern schroff entgegen. In äußern Fragen versuchte Dalwigk zwar wiederholt eine Rolle zu spielen, mußte sich aber durch die Militärkonvention vom 7. April 1867 und das Schutz- und Trutzbündnis vom 11. April noch enger an Preußen anschließen. Der Krieg von 1870/71, während dessen die hessischen Truppen als 25. Division unter Führung des Prinzen Ludwig zum 9. Armeekorps gehörten und an dessen Kämpfen rühmlichen Anteil nahmen, machte der 1866 geschaffenen Zwitterstellung Hessens ein Ende und vereinigte den ganzen Staat mit dem Deutschen Reich durch den Vertrag vom 18. Nov. 1870.

Nun sah sich auch endlich Dalwigk genötigt, seine Entlassung einzureichen (6. April 1871), und nach Verlauf eines 18monatlichen Übergangsstadiums unter dem Ministerium Lindelof kam (13. Sept. 1872) mit Hofmann, bisherigem Vertreter H.-Darmstadts im Bundesrat, ein ebenso begabter und arbeitsfähiger wie ehrlich deutsch gesinnter Minister an die Spitze der Regierung. Vor allem war er entschlossen, H. von der unberechtigten Herrschaft des Bischofs Ketteler zu Mainz und seiner Agitatoren zu befreien. Dem Vorgang Preußens folgend, brachte die Regierung 1874 ein neues Volksschulgesetz, welches die Oberaufsicht des Staats und die Leitung des gesamten Volksschulwesens durch staatliche Behörden entschieden festhielt, bei den Kammern zur Annahme, verkündete 27. Jan. 1874 die mit der Landessynode vereinbarte neue Verfassung der evangelischen Kirche und legte im September 1874 dem Landtag fünf Kirchengesetzentwürfe vor, die sich im wesentlichen an die preußischen Maigesetze von 1873 und 1874 anschlossen, zum Teil aber noch über sie hinausgingen und trotz des Protestes und der Gehorsamsverweigerung des Bischofs Ketteler im April 1875 zum Abschluß kamen. Im Mai 1876 ward der zum Präsidenten des Reichskanzleramts ernannte Minister Hofmann durch Freiherrn v. Starck ersetzt, was aber die neue politische Richtung der Regierung um so weniger beeinflußte, als 13. Juni 1877 Ludwig III. plötzlich starb und ihm sein Neffe, der durchaus national und liberal gesinnte Großherzog Ludwig IV., folgte. Dieser war vor allem darauf bedacht, die finanziellen Verhältnisse des großherzoglichen Hauses zu regeln, die durch den übermäßig belasteten Hofstaat und jahrelange Defizits in Verwirrung geraten waren. Im Mai 1878 ward die Sache dahin geregelt, daß die Schulden der Zivilliste teils durch Verkauf von Domänen getilgt, teils vom Land übernommen, die Zivilliste aber um 300,000 Mk., auf 1,096,000 Mk., vermindert wurde. Ferner wurde die Zahl der Ministerien auf drei (Staatsministerium, Justiz und Inneres, Finanzen) verringert. Nach Einführung der neuen Reichsjustizgesetze wurde eine Reform der Steuern vorgenommen und 1885 zum Abschluß gebracht. Inzwischen hatte im Mai 1884 der Staatsminister v. Starck seine Entlassung genommen, weil er mit der morganatischen Vermählung des Großherzogs mit einer Frau v. Kolemine (s. Ludwig) nicht einverstanden gewesen war. An seine Stelle als Staatsminister war im August Staatsrat Finger getreten, der die Verwaltung ganz im Sinn seines Vorgängers führte.

Vgl. Baur, Urkunden zur hessischen Landes-, Orts- und Familiengeschichte (Darmst. 1846-73, 5 Bde.); Steiner, Geschichte des Großherzogtums