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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Hiërodulīe; Hiërofalco; Hiëroglyphen

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Hierodulie - Hieroglyphen.

freiem Entschluß oder durch fremde Stiftung. Die freiwillige Hierodulie bei den Griechen ist wahrscheinlich durch orientalischen Einfluß entstanden. Im Orient waren die H. Knechte, Diener der Priester, welche den um einen Tempel gelegenen heiligen Boden bebauten und von dem Ertrag Priester und Heiligtum zu erhalten, ferner die niedern Dienste des Tempels und des Kultus zu verrichten hatten oder die Musik und den Gesang bei den Opfern besorgten. Die weiblichen H. gaben sich an einzelnen Orten den Tempelbesuchern gegen ein der Gottheit dargebrachtes Geschenk preis. Strabon erwähnt einen Hierodulenstaat zu Komana in Kappadokien, den mehr als 6000 für den Priester eines mit weiten Ländereien ausgestatteten Tempels arbeitende H. bildeten. Das Heiligtum der Venus Erycina in Sizilien hatte von alters her weibliche H. und wurde von Jungfrauen verwaltet. In Hellas durften Tänzerinnen und Buhldirnen im allgemeinen nicht als H. fungieren; speziell in Korinth aber waren die H. zugleich Hetären und entrichteten von ihrem Gewerbe der Göttin eine Steuer. Schenkungen von H., vorzüglich nach Delphi, werden häufig erwähnt. Kriegsgefangene, welche als H. dem Schutz der Götter anheimfielen, hatten ihr Los nicht zu beklagen. Ein uralter Hierodulenstaat, der selbst dem Feind als unverletzlich galt, war auf Delos; andre dergleichen Institute fanden sich zu Delphi, Dodona, Eleusis, Ephesos u. a. O. Vgl. Hirt, Über die H. (Berl. 1818).

Hiërodulīe (griech.), Dienst der Hierodulen (s. d.).

Hiërofalco, s. Falken.

Hiëroglyphen (griech., "heilige Skulpturen oder Inschriften"), Bezeichnung der Bilderschrift, deren sich die alten Ägypter fast 4000 Jahre hindurch zur Aufzeichnung namentlich religiöser Texte bedienten. Die Anfänge dieser Schrift fallen mit den Anfängen der ägyptischen Geschichte zusammen, und erst in der zweiten Hälfte des 3. Jahrh. n. Chr. machte die merkwürdigste und älteste aller Schriften in Ägypten der koptischen Platz, welche als die christliche Schrift das griechische Alphabet gebraucht. Kaiser Decius (gest. 251) ist der letzte römisch-ägyptische König, dessen Namen wir in den H. finden. Das Material an hieroglyphischen Schriften ist ein so unendlich reiches, daß das Studium derselben mit den darauf gegründeten historischen, chronologischen und geographischen Forschungen eine eigne, umfangreiche Wissenschaft ausmacht: die Ägyptologie.

I. Die hieroglyphische Schrift.

Die hieroglyphische Schrift, die während des langen Zeitraums ihres Bestehens im allgemeinen keine, im besondern aber vielfache Veränderungen und Bereicherungen erfahren hat, besteht aus etwa 2-3000 Zeichen oder Bildern, welche das etwas komplizierte Schriftsystem bilden. Die 25 Klassen der Schriftbilder sind folgende: a) Männer, stehend, knieend, hockend, sitzend; b) Frauen, stehend, hockend, sitzend; c) Götter und phantastische Figuren; d) menschliche Glieder; e) Säugetiere und zwar Haustiere (Pferd, Rind, Widder, Schaf, Ziege, Schwein, Esel, Hund, Affe) oder wilde Tiere (Löwe, Panther, Katze, Fuchs, Hase, Elefant, Rhinozeros, Nilpferd, Gazelle, Giraffe); f) Teile von Säugetieren; g) Vögel (Raubvögel, Sumpfvögel, Enten, kleine Vögel); h) Teile von Vögeln; i) Amphibien (Schildkröte, Eidechse, Frosch, Schlange); k) Fische; l) Gliedertiere (Insekten, Spinnen, Würmer); m) Vegetabilien (Bäume und ihre Teile, Pflanzen und Früchte); n) Himmel, Erde und Wasser; o) Gebäude und ihre Teile; p) Schiffe und ihre Teile; q) Hausgerät (Sitze, Tische, Kasten u. dgl.); r) Tempelgerät; s) Kleidungsstücke und Schmucksachen; t) Waffen und Kriegsgerät; u) Werkzeuge und Ackergerät; v) Flechtwerk (Stricke, Netze, Pakete); w) Gefäße (Töpfe, Körbe, Gemäße); x) Opfer- und Festgegenstände; y) Schreib-, Musik- und Spielgerät; z) geometrische, unbekannte und zweifelhafte Figuren. Die Männer und Tiere wenden für gewöhnlich den Kopf nach der rechten Seite, der Schrift entgegen; denn diese, mag sie nun, wie das Chinesische, in Kolumnen oder, wie die meisten Schriften, in Reihen geschrieben sein, ist von rechts nach links zu lesen. Nur ausnahmsweise ist eine umgekehrte Richtung angewandt, wo der Text das Pendant zu einem andern bildet; in diesem Fall wenden sich die Figuren mit ihrer Vorderseite nach der Linken.

Die H. sind entweder eingeschnitten, sei es einfach oder als sehr flaches Relief ausgearbeitet, bald mit größerer, bald mit geringer Sorgfalt in der Ausführung, oder sie sind gemalt und dann mitunter in verschiedenen Farben, von welcher Art künstlerischer Arbeit das Grab Setis I. in Bibán el Meluk ein wahrhaft bewunderungswürdiges Beispiel ist. Figuren, die nur in Umrissen gezeichnet sind, heißen lineare; dieser Art pflegen die zu sein, welche in Publikationen von Texten und ägyptologischen Schriften gebraucht werden. Die Denkmäler der ältesten Zeit, der Pyramidenzeit, zeigen uns die H. von hervorragender Schönheit; die eigentliche Blütezeit des ägyptischen Schriftwesens fällt aber unter die 18. Dynastie, um 1600 v. Chr. Danach sank die Kunst allmählich, hatte eine neue Blüte im Zeitalter der Psammetiche und verfiel wieder, bis sie endlich ganz erlosch. Die Ägypter schrieben auf Stein, Holz und Papyrus; ihre Bücher waren Papyrusrollen; der Brauch, auf Leder zu schreiben, scheint früh bei ihnen abgekommen zu sein; nur wenige ägyptische Pergamenthandschriften haben sich bis auf unsre Tage erhalten. Die Ägypter waren das schreibseligste aller alten Völker; mit H. bedeckt sind die Wände ihrer großartigen Tempel innen und außen sowie die Kammern ihrer weiten Gräber; beschrieben sind die Obelisken, Gedenktafeln, Stelen, Statuen, Götterbilder, Sarkophage, Kasten und Gefäße; ja, selbst Schreibzeuge und Stöcke pflegen den Namen des Eigentümers und ein kurzes Gebet zu tragen. Deshalb ist das Material der ägyptologischen Wissenschaft ein ungeheures, und wer z. B. die Inschriften des Tempels von Edfu abschreiben wollte, würde jahrelang daran zu thun haben. Viele altägyptische Schriftdenkmäler werden jetzt in den ägyptischen Museen zu Paris, London, Edinburg, Leiden, Berlin, Petersburg, Wien, Miramar, Turin, Bologna, Florenz, Rom, Neapel, Bulak etc. aufbewahrt, und manches ist davon schon veröffentlicht; aber an eine Erschöpfung ist in unserm Jahrhundert nicht zu denken.

Neben der Hieroglyphenschrift bestand bei den alten Ägyptern eine Kurrentschrift, die sich zu jener verhält wie unser Geschriebenes zum Gedruckten; man nennt sie nach den alten Schriftstellern die hieratische Schrift, d. h. Priesterschrift (welcher Name aber nicht genau zu nehmen ist, da das Hieratische die eigentliche im alten Ägypten übliche und in den Papyrus vorwaltend angewandte Schrift ist), von welcher fast die ganze zivilisierte Welt ihre Schrift ableitet. Denn nach der ägyptischen Schrift, wie de Rouge ziemlich überzeugend nachwies, bildeten die Phöniker ihr Alphabet; von den Phönikern nahmen es die Griechen, von den Griechen die Römer, von den Römern fast ganz Europa an. Unser a z. B. ist schließlich nur die zusammengeschrumpfte Gestalt eines Adlers, d. h.