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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Hilfskassen

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Hilfskassen (gesetzliche Regelung in Deutschland und Österreich).

Kasse bestimmte für ihr eignes Gedeihen notwendige Rechte (Rechte der juristischen Persönlichkeit) verliehen, dafür aber auch entsprechende Verpflichtungen auferlegt werden.

In Deutschland bedurften früher die freien H. meist der Konzession, daneben bestand vielfach Versicherungspflicht und zwar gewöhnlich in der Art, daß dieselbe, je nachdem ein örtliches Bedürfnis vorlag, durch Ortsstatut oder Anordnung der Verwaltungsbehörde begründet werden konnte. So konnte in den acht ältern Provinzen Preußens Gesellen, Gehilfen, in Lohn stehenden Lehrlingen und Fabrikarbeitern die Pflicht auferlegt werden, einer Kranken-, Hilfs- oder Sterbekasse beizutreten oder, wo eine solche Kasse nicht bestand, zu ihrer Errichtung sich zu vereinigen; außerdem konnten die Arbeitgeber zu Beiträgen an die Kassen herangezogen werden. Der Zweck der Kassen war auf die Versicherung für den Krankheits- oder Sterbefall nicht beschränkt. Thatsächlich ist indessen der Versicherungszwang nur zu gunsten solcher Kassen geübt worden, welche die Bestreitung der mit der Krankenpflege und Beerdigung verbundenen Kosten vermitteln. Ähnliche Bestimmungen waren in Hannover in Kraft, doch konnte den Arbeitgebern die Leistung von Zuschüssen an die Kasse nicht auferlegt werden. Im Königreich Sachsen, in Oldenburg und in den thüringischen Staaten kamen gleiche Grundsätze zur Anwendung. In Hamburg war unbedingt und unterschiedslos jeder Arbeiter verpflichtet, einer Krankenkasse beizutreten. In Bayern, wo den außerhalb ihrer Heimat in ständiger Arbeit stehenden Gehilfen, Lehrlingen und Fabrikarbeitern die nötige Krankenunterstützung von den Gemeinden gewährt werden muß, konnten letztere von den Arbeitern für die Dauer der Arbeit im Gemeindebezirk einen regelmäßigen Krankenbeitrag erheben. Auch in Württemberg und Baden konnten Gehilfen und Lehrlinge zu Beiträgen für die ihrer Pflege gewidmeten Krankenanstalten herangezogen werden. Ebenso bestand in den übrigen Teilen Norddeutschlands in einer oder der andern Gestalt ein Versicherungszwang; nur im ehemaligen Herzogtum Nassau, in Waldeck und Bremen blieb die Gesetzgebung der Frage ganz fremd. In dem Entwurf der Gewerbeordnung von 1869 war die Entwickelung des Hilfskassenwesens, welches eine unentbehrliche Ergänzung der örtlichen Armenpflege bildet, als eine Aufgabe der Staats- und Gemeindeverwaltung aufgefaßt worden. Ihren Organen sollte die Einrichtung gewerblicher H. vorbehalten bleiben und zwar mit der Befugnis, zum Eintritt in die von ihnen errichteten oder anerkannten Kassen die Arbeiter anzuhalten. Das Gesetz selbst beließ es jedoch bei dem bestehenden Zustand, nur hob es die Verpflichtung selbständiger Gewerbtreibenden, einer Kranken-, Hilfs- oder Sterbekasse beizutreten, auf. Ebenso wurde die Verpflichtung von Gesellen, Gehilfen, Lehrlingen und Fabrikarbeitern, einer bestimmten Kasse beizutreten, für diejenigen aufgehoben, welche nachwiesen, daß sie bereits einer andern Kasse angehörten.

Eine einheitliche Regelung für das Reich wurde angebahnt durch das Gesetz über die eingeschriebenen H. vom 7. April 1876. Dieses Gesetz gilt nur für Krankenkassen, wie es denn jetzt vielfach üblich geworden ist, H. und Krankenkassen, und zwar insbesondere freie Krankenkassen, als gleichbedeutend zu betrachten. Zu diesem Gesetz und den dasselbe abändernden und ergänzenden Gesetzen von 1883 und 1884 (vgl. hier über Krankenkassen) traten dann noch die Gesetze über Unfallversicherung (s. d.) von 1884 und 1886. In betreff derjenigen Kassen, welche nicht der Krankenversorgung und der Unfallversicherung dienen, herrscht in Deutschland, wie anderwärts, volle Kassenfreiheit. Die Sterbekassen sind in allen Klassen der Gesellschaft mäßig verbreitet. Die Altersversorgungs- sowie die Witwen- und Waisenkassen stehen erst im Beginn der Entwickelung. Ende 1885 bestanden im Deutschen Reich 1805 eingeschriebene H. (mit 730,722 Mitgliedern) und 474 (mit 143,785 Mitgliedern) andre freie, auf dem Reichsgesetz vom 15. Juni 1883 beruhende H.; über deren Verteilung auf die einzelnen Staaten vgl. die Tabelle bei Art. "Krankenkassen". Ausgaben des Gesetzes vom 7. April 1876 besorgten Schicker (Stuttg. 1879) und Parey (2. Aufl., Berl. 1886). Vgl. ferner Bamberger, Die Arbeiterfrage unter dem Gesichtspunkt des Vereinsrechts (Leipz. 1873); "Schriften des Vereins für Sozialpolitik", Nr. 5 (das. 1874); Oppenheim, Die Hilfs- und Versicherungskassen der arbeitenden Klassen (Berl. 1875); Hirsch, Die gegenseitigen H. und die Gesetzgebung (das. 1875); Popper, Gewerbliche H. und Arbeiterversicherung (Leipz. 1880); Balck; Die eingeschriebenen (freien) H. systematisch dargestellt (Wism. 1886); "Die Arbeiterversorgung Organ für Begründung, Einrichtung und Beförderung von H." (hrsg. von Schmitz, Neuwied, seit 1884).

Hilfskassen im Ausland. Statistik.

In Österreich ist das Hilfskassenwesen in folgender Weise geregelt. Nach § 121 der Gewerbenovelle von 1883 haben die gewerblichen Genossenschaften zur Unterstützung der Gehilfen eigne Krankenkassen zu gründen und zu erhalten oder einer bestehenden Krankenkasse beizutreten. Hierzu haben die Gehilfen bis zu 3 Proz., die Gewerbsinhaber bis zu 1,5 Proz. des gezahlten Lohns beizusteuern. Das Krankengeld hat für Männer mindestens die Hälfte, für Frauen mindestens ein Drittel des Lohns zu erreichen und ist bei längerer Krankheitsdauer mindestens durch 13 Wochen zu gewähren. Nach den Gewerbegesetzen von 1859 und 1885 sind ferner jene Gewerbeunternehmer, welche keiner Genossenschaft angehören, also insbesondere die Fabrikunternehmer, verpflichtet, unter Beitragsleistung der Hilfsarbeiter entweder eine besondere Krankenkasse bei ihrem Etablissement zu errichten, oder einer schon bestehenden beizutreten. Lehrlingen, welche in der Hausgenossenschaft des Lehrherrn leben, hat letzterer im Erkrankungsfall die gleiche Hilfe angedeihen zu lassen, welche den Dienstherren den Dienstboten gegenüber obliegt. Für die Dienstboten selbst sowie für andre als gewerbliche Arbeiter haben nach der Gesindeordnung und dem "Verpflegskostennormale" von 1837 die Arbeit- und Dienstgeber die Spitalverpflegskosten und zwar in der Regel bis zu einem Monat zu bezahlen. In diesen Verhältnissen wird demnächst eine weitgreifende Änderung eintreten, indem nach dem Vorgang Deutschlands die Unfallversicherung der Arbeiter in Aussicht genommen ist und die Krankenversicherung für alle Arbeiter in umfassender Weise organisiert werden soll. - 1879 fand in Österreich eine Aufnahme der vorhandenen Kranken- und Unterstützungskassen statt. Die Zahl der Mitglieder stellte sich für 748 dieser Kassen (von den übrigen 112 waren die betreffenden Angaben nicht zu erlangen) auf 306,678 Personen; 742 Anstalten hatten eine Einnahme von 2,013,081 Gulden und eine Ausgabe von 1,855,912 Gulden. 22 Kassen wurden durch Gewerbsinhaber, 224 durch die Hilfsarbeiter, 518 durch beide gemeinschaftlich erhalten; 116 Kassen waren Genossenschafts-^[folgende Seite]