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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Homeros

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Homeros (die Homerische Frage; Einfluß der Homerischen Gedichte).

Patroklos, dem Wendepunkt des Gedichts, dann die Aussöhnung des Achilleus mit Agamemnon und seine Rache an Hektor, die Leichenfeier des Patroklos und die Auslieferung und Bestattung des Leichnams des Hektor.

Schon im Altertum war die Ansicht vorhanden, daß "Ilias" und "Odyssee" nicht von demselben Dichter und nicht aus demselben Zeitalter herrühren; die Vertreter derselben, an ihrer Spitze die Grammatiker Xenon und Hellanikos, nannte man Chorizonten (die Trennenden). Und in der That herrscht zwischen beiden Gedichten nicht nur eine unleugbare Verschiedenheit im Ton, sondern auch in mannigfachen Einzelheiten, die mindestens auf eine erheblich spätere Abfassung der "Odyssee" hinweisen. Die Vorstellungen von den Göttern sind in diesem Epos edler und vollkommener, das religiöse und sittliche Leben steht auf einer höhern Stufe; auch das häusliche und soziale Leben zeigt sich mehr entwickelt und ausgebildet, Schiffahrt und Handel sind ausgebreiteter Kenntnis ferner Länder und ihrer Produkte gewachsen. Auch die Wahrnehmung entging den alten Gelehrten nicht, daß in beiden Gedichten nicht alles auf der gleichen Stufe der Vollendung steht, daß es neben den herrlichsten Partien auch matte und weniger anziehende gibt, daß es an Störungen der Erzählung, ja an Widersprüchen nicht fehlt. Während sie ab er derartige Mängel vielfach durch Annahme von Interpolationen nicht nur einzelner Verse, sondern auch ganzer Partien zu beseitigen suchten, knüpften die neuern Kritiker an dieselben eine Reihe scharfsinniger Hypothesen über die Entstehung der Homerischen Gesänge. Angeregt wurde die sogen. Homerische Frage durch Fr. A. Wolf ("Prolegomena ad Homerum", 1795), welcher die Behauptung aufstellte, daß mündlich entworfene Lieder des H. und seiner Schule, der Homeriden auf Chios, Jahrhunderte hindurch von umherziehenden Säugern, den Rhapsoden (s. d.), mündlich überliefert und erst nachträglich durch Peisistratos von Athen um 540 in ihre gegenwärtige Gestalt zweier einheitlicher Epen gebracht seien. Er gründete seine Behauptung auf die jetzt längst erschütterte Ansicht, daß der allgemeine Gebrauch der Schreibkunst sich in Griechenland erst im Zeitalter der sieben Weisen nachweisen lasse, und auf Zeugnisse späterer Schriftsteller, welche Peisistratos als Sammler und Ordner der Homerischen Gedichte bezeichnen. Sind auch Wolfs Ansichten in wesentlichen Punkten längst als unrichtig erwiesen, wie z. B. ausgemacht ist, daß die Homerischen Dichtungen in ihrer jetzigen Gestalt schon um Beginn der Olympiaden (753 v. Chr.) schriftlich vorhanden gewesen sein müssen, weil nach ihrem Muster und an sie anknüpfend die sogen. Kykliker größere Epen schriftlich abfaßten, so ist doch seine Methode der historischen Forschung die herrschende geblieben. Ihm folgend, haben manche Gelehrte, in der "Ilias" besonders Lachmann, den Versuch gemacht, die ursprünglich selbständigen Lieder auszuscheiden, während andre aus zwei von H. entworfenen Gedichten mäßigen Umfangs vom Zorn des Achilleus und der Heimkehr des Odysseus durch allmähliche Erweiterungen in den Sängerschulen die jetzige "Ilias" und "Odyssee" entstehen ließen oder eine Zusammensetzung aus kleinen Epen, einer Achilleis und Ilias für das eine und einer Telemachie und Heimkehr des Odysseus für das andre (so namentlich Kirchhoff), nebst andern Zuthaten annahmen. Anderseits hat aber auch die Ansicht namhafte Vertreter (besonders Bergk und Nitzsch), daß "Ilias" und "Odyssee" von Anfang an als einheitliche Ganze bestanden, daß allerdings bei ihrer Abfassung schon vorhandene alte Lieder benutzt sein können und in der Folge mit ihnen vielfache Überarbeitungen und Erweiterungen vorgenommen wurden, bis sie noch vor Beginn der Olympiaden im wesentlichen die gegenwärtige Gestalt erhielten.

Was das erwähnte Verdienst des Peisistratos um die Homerischen Gedichte betrifft, so scheint durch die Thätigkeit der Rhapsoden im Lauf der Zeit eine gewisse Zerrüttung derselben herbeigeführt zu sein. Indem sie sich für ihre Vorträge einzelner Partien, der sogen. Rhapsodien, die vorzugsweise beliebten und ihrem Talent besonders zusagenden aussuchten, kamen die andern in die Gefahr, in Vergessenheit zu geraten. Überdies erlaubten sie sich, um den für ihre Vorträge ausgewählten Abschnitten eine bessere Abrundung zu geben, und aus andern Gründen mancherlei Veränderungen und Zusätze. Schon Solon soll angeordnet haben, daß sich die Rhapsoden bei den öffentlichen Vorträgen genau an den überlieferten Text zu halten hätten. Um der eingerissenen Verwirrung endgültig zu steuern, ließ Peisistratos durch eine Kommission von mehreren Dichtern, an deren Spitze Onomakritos stand, eine Sammlung der zerstreuten Lieder und auf Grund der in den Händen der Rhapsoden befindlichen Aufzeichnungen eine Redaktion des Textes veranstalten. Außerdem verordnete er (oder vielmehr sein Sohn Hipparch), daß die Rhapsoden die Gedichte an den Panathenäen vollständig, im Zusammenhang und wörtlich genau, sich einander ablösend, vortragen sollten. Andre beschränken die Thätigkeit des Peisistratos auf die Herstellung eines revidierten Textes.

Es ist nicht unwahrscheinlich, daß die Rezension des Peisistratos die Grundlage für alle an verschiedenen Orten Griechenlands befindlichen Rezensionen der "Ilias" und der "Odyssee" bildete. Während eines Zeitraums von 2-3 Jahrhunderten nach Peisistratos erfuhren die Homerischen Gedichte keine durchgängige Bearbeitung; nur die sogen. Diaskeuasten (s. d.) nahmen oft sehr willkürliche Veränderungen im Text vor und machten neue Einschiebsel, denen gegenüber die Kritiker des alexandrinischen Zeitalters sich bemühten, den Peisistrateischen Text wiederherzustellen. Unter den gelehrten Kritikern zu Alexandria, für deren Studien H. den Mittelpunkt bildete, ragt durch Scharfsinn, feine Kenntnis des Homerischen Sprachgebrauchs sowie durch Geschmack und Besonnenheit vor allen Aristarchos hervor. Er hat den seit seiner Zeit gewöhnlichen Text festgestellt, und ihm schreibt man auch die Einteilung der beiden Gedichte in je 24 Bücher zu.

Der Einfluß der Homerischen Gedichte auf die Entwickelung des griechischen Volkes war ungemein groß. Es ist vollkommen richtig, was Herodot sagt, daß H. nebst Hesiod den Griechen ihre Götter gemacht hätten; d. h. die Autorität der beiden Gedichte war so mächtig, daß das, was hier von Göttern und göttlichen Dingen vorkam, für kanonisch gehalten wurde. Die religiösen Vorstellungen, welche jene beiden Dichter ausgebildet haben, blieben für die Hellenen zu allen Zeiten maßgebend. Auch auf das sittliche und staatliche Leben übten die Homerischen Gedichte bedeutenden Einfluß aus, und überhaupt waren sie für die Griechen die Grundlage aller höhern Geistesbildung. Reichtum und Mannigfaltigkeit des Inhalts zeichnen sie aus; in einfacher Natürlichkeit, Wahrheit und plastischer Anschaulichkeit ist alles dargestellt. Ein großer Sinn atmet überall: bald sieht man die verderblichen Folgen der Gewaltthätigkeit und des Übermuts, bald die Macht der Mäßigung und Vernunft; Gehorsam