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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Hungersnot

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Hungersnot.

len Europas auf, wo die Bevölkerung rasch zugenommen hatte und der Landwirtschaftsbetrieb noch ungenügend entwickelt war. Im ganzen karolingischen Zeitalter folgten sich die Hungersnöte, teils durch natürliche Ursachen, teils durch Aberglauben veranlaßt, mit erschreckender Raschheit; solche werden z. B. im J. 795, dann in den "Annales Fuldenses" für die Jahre 850, 868, 873, 874, 880, 889 beschrieben; sie wiederholten sich in den folgenden Jahrhunderten und zwar 990, 1100, 1187 etc. mit solchen begleitenden Erscheinungen, welche den grellsten Barbarismus hervortreten lassen. So kam es bei der H. in Frankreich 1030-32 vor, daß ein Mann 48 andre getötet und verzehrt hatte. Ähnliche Grausamkeiten werden von einer H. in Böhmen 1280-82 erzählt. Selbst in Kornländern, wie Preußen, hörte man bei H. jener Zeit häufig, daß Leichen ausgegraben wurden, Eltern ihre Kinder schlachteten und Kinder ihre Eltern. Die H. von 1125 verminderte Deutschlands Bewohner angeblich um die Hälfte. Zahlreich findet man bei den Chronisten, daß in einer einzigen Stadt viele Hunderte von Menschen gestorben sind, sich erhängt haben etc. Allgemein galt es im Mittelalter als eine durch die Sitte nicht verurteilte Hilfe der Stadtverwaltungen, ihre Armen vor die Stadtthore zu treiben, wo sie der Hungertod ereilte. Bei einer H. in Ungarn (1505) wurden hungernde Eltern, die ihre Kinder geschlachtet und gegessen hatten, nicht bestraft; noch um die Mitte des 17. Jahrh. waren in Deutschland Hungersnöte eine sehr häufige Erscheinung, und selbst im 18. Jahrh. traten sie noch in der größten Ausdehnung auf; so starben z. B. 1772 in Kursachsen 150,000 Menschen aus Mangel an Nahrung. 1817 trat in Deutschland die letzte Mißernte ein, welche örtlich noch mit dem Namen H. bezeichnet wird, und ebenso brachte noch die Mißernte von 1846 in manchen Teilen Deutschlands Folgen, welche an die alte H. erinnern; auch in Irland, wo die Getreidemißernte mit der Kartoffelkrankheit zusammenfiel, sollen im J. 1847 noch mehr als 1 Mill. Menschen der H. und den ihr folgenden Epidemien erlegen sein. Seit der Mitte des 19. Jahrh. ist aber eine Wiederkehr solcher Erscheinungen unmöglich gemacht. Durch die völlige Umwälzung im Betrieb der Landwirtschaft und in der Zusammensetzung unsrer täglichen Nahrung, noch mehr durch die Regelung und internationale Organisation der Getreide- und Fleischzufuhr sowie die Verbesserung unsrer Handelsverhältnisse, welche eine rasche Ausgleichung von Wert und Bedarf sowie der Preise gesichert haben, sind wir jetzt vor Hungersnöten geschützt. Für Amerika wird keine einzige allgemeine H. aufgeführt; der neue Kontinent lernte bei der allmählichen Art seiner Besiedelung nur Notstände kennen, wie sie Dürre oder andre klimatische Verhältnisse örtlich in kleinern Kreisen bedingten. Anders liegen die Verhältnisse in Asien. Der Verkehr mit dem Innern ist nur in einigen Teilen von der Natur durch schiffbare Flüsse erleichtert, Kanäle und Straßen bilden keine genügende Ergänzung, der Widerwille gegen Eisenbahnen oder die Schwierigkeiten ihrer Errichtung sind nur in Ostindien und Japan überwunden. Im Innern und im hohen Norden sind ungeheure Strecken Wüsteneien oder Steppen mit äußerst geringer Fruchtbarkeit, gute Ernten werden nur längs der Flüsse oder durch künstliche Bewässerung erzielt. Im Süden mit seiner üppigen Vegetation hängen reiche Ernten von rechtzeitigem Eintreten der Regenzeit ab. Klima und Religionsvorurteile bedingen eigentümliche Lebensgewohnheiten: Millionen enthalten sich der Fleischnahrung oder genießen nur Getreide bestimmter Art, z. B. Reis. Dazu kommt stellenweise eine große Dichtigkeit der Bevölkerung, welche um so stärker von jedem Mißwachs berührt wird, als sie an eine durchaus einseitige Ernährung gewöhnt ist und für einen Ausgleich mit dem Überschuß andrer Gegenden alle Bedingungen fehlen. Hungersnotjahre mit allen ihren Schrecken können hier in kurzen Zwischenräumen beobachtet werden; seit dem Beginn unsers Jahrhunderts wurde Indien schon siebenmal, Persien, Türkisch-Armenien und China ebenfalls wiederholt von H. im strengsten Sinn heimgesucht. Noch die H. von 1866 soll in Ostindien nahezu 7½ Mill. Menschen als Opfer gefordert haben, dagegen bildet eine der interessantesten Erscheinungen, welche einen Wendepunkt für die Lebensmittelversorgung Ostindiens bedeutet, die drohende H. des Mißjahrs 1873/74 in Bengalen. Bei derselben äußerten sich die Erfolge einer freisinnigen Kornhandelspolitik und der Verkehrsentwickelung so glänzend, daß damit wohl die Vorbeugungs- und Heilmittel für die Zukunft vorgezeichnet sind. Für eine Bevölkerung von 15 Mill. Menschen mußten Lebensmittel herbeigeschafft werden, sollte nicht ein großer Teil der Bewohner dem Elend erliegen. Es gelang der britischen Regierung, durch vortreffliche Einleitungen von Zufuhren, durch einen gut organisierten Staats- und freien innern Kornhandel den Ausbruch einer wirklichen H., zu deren Abwehr die Bevölkerung niemals die eigne Kraft oder das richtige Verständnis hatte, zu verhüten; nur 26 Personen starben Hungers oder an Entkräftung! Allerdings wiederholte sich bald die Gefahr viel dringender im südlichen Indien; Ende 1876 war im Dekhan unter 23 Mill. Einw. der Präsidentschaften Bombay und Madras, dann der Provinz Maissur nur ein Sechzehntel einer Durchschnittsernte erzielt worden. Die Verkehrsverhältnisse lagen zwar günstiger: statt genötigt zu sein, Getreide selbst einzuführen, konnte die Regierung dies dem Privathandel überlassen und hatte nur durch Arbeits- und Almosenverteilung einzugreifen; allein das Mißverhältnis zwischen der Bevölkerung und dem Lebensmittelvorrat war ein viel größeres, die Sterblichkeit war eine sehr große, und bis zum Ende der H. (Januar 1878) erlagen 1,300,000 der Bevölkerung den Entbehrungen. Die systematischen Verwaltungsmaßregeln, welche von der Famine Commission besonders in Bezug auf das Netz der Verkehrsmittel und die Hebung der Bodenkultur eingeleitet wurden, dürften auch Ostindien bald vor der häufigen Wiederkehr eigentlicher H. bewahren. Persien brachte die H. von 1870 bis 1872, die sich über das ganze Reich verbreitete, nach dem Urteil eines Augenzeugen um 30 Jahre zurück; es verlor nicht weniger als 1½ Mill. Menschen, d. h. ein Viertel seiner Einwohner. Die Kopflosigkeit und Habgier der Behörden trugen wesentlich die Schuld an dieser Größe des Elends. In Kleinasien wurden 1873-1875 die innern Provinzen Angora und das südlich daran anschließende Konia (Ikonion) schwer heimgesucht. In China war in den Nordprovinzen Schensi, Schansi und Honan eine Bevölkerung von 56 Mill. infolge anhaltender Dürre und Mißernte seit 1877 einem fürchterlichen Notstand jahrelang preisgegeben. In ihrer Verzweiflung griffen die niedern Volksklassen zu ganz unmenschlichen Mitteln, wie Kindermord und -Verkauf, plündernde Banden verwüsteten das Land. Man schätzte die Zahl der Opfer auf 4-6 Mill. Menschen. Die größte Schuld trugen die schlechten Verkehrswege, welche Zufuhren unmöglich machten. Vgl. die Litteratur bei Getreidehandel,