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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Hysterisch; Hysterium; Hysterocele; Hysteromanie; Hysteron proteron

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Hysterisch - Hysteron proteron.

der Magengegend, über Magen- und Kolikschmerzen und geben die abenteuerlichsten Schilderungen ihrer Empfindungen im Bauch. Dagegen sind abnorme Empfindungen der Geschlechtsteile seltener bei der H., als man erwarten möchte. Nicht minder zahlreich und mannigfach sind die Motilitätsstörungen bei der H. Am häufigsten stellen sie sich als hysterische Krämpfe dar. Das Bewußtsein ist während dieser Krämpfe niemals aufgehoben, doch erinnern sich die Kranken nur summarisch und nicht der einzelnen Vorgänge während des Anfalles. Die Krämpfe erscheinen bald nur als vereinzelte Zuckungen, namentlich der Arme, bald erstrecken sie sich fast über den ganzen Körper und bieten ganz das Bild der epileptischen Krämpfe dar. Auch starrkrampfähnliche Zustände kommen bei H. vor, und Lach-, Wein- und Gähnkrämpfe sind dabei etwas ganz Gewöhnliches. Ferner gehören hierher der hysterische Husten und die krampfhafte Zusammenziehung des Schlundes, welche bei den Kranken die Empfindung erweckt, als steige eine Kugel von der Magengrube gegen die Kehle hinauf (globus hystericus). Neben den Krämpfen kommen hysterische Lähmungen vor. Bald betreffen sie nur einen Arm, ein Bein, bald auch eine ganze Körperhälfte. Die hysterischen Lähmungen gehen oft schnell vorüber, wechseln ihren Sitz etc. Sie sind offenbar zentralen Ursprungs; die gelähmten Muskeln reagieren prompt auf den Reiz des elektrischen Stroms. - Derartige Krämpfe und Lähmungen nennt man, auch wenn sie bei jungen Männern vorkommen, hysterische. Auffallend ist an Hysterischen die ungleiche Blutverteilung im Körper: die meisten Kranken haben beständig kalte Hände und Füße, über das Antlitz aber ergießt sich oft eine brennende, schnell vorübergehende Röte. Bei der H. kommt ferner eine periodische Steigerung der Harnabsonderung vor, der Harn ist dann dünn und blaß. Die letztern Erscheinungen sind Beweis dafür, daß auch die Gefäßnerven bei der H. mit alteriert sind. Die eigentlichen Seelenstörungen sind ausgezeichnet durch die lebhafte Empfindung, die durch kleine Anlässe sich zu exzentrischen Äußerungen der Freude oder des Schmerzes steigert, und vor allem durch die Oberflächlichkeit aller Eindrücke, durch den raschen Wechsel der Stimmungen, der Gelüste, der Einbildungen. Es besteht ein Drang, sich wichtig und interessant zu machen, von körperlichen Leiden übertriebene Schilderungen zu entwerfen, Ärzte und Umgebung zu täuschen (Verschlucken von Nadeln, Stigmatisieren, Selbstverletzungen). Ferner leidet die Treue bei Wiedergabe erlebter oder gehörter Ereignisse, wobei die erregbare Phantasie und nicht selten Zwangsvorstellungen mitwirken, so daß die Kranken als Lügner erscheinen.

In schweren Fällen artet die H. zu wirklicher Geisteskrankheit aus, die dann entweder ähnlich der Epilepsie mit Krämpfen oder vorwiegend mit religiösen Delirien, Visionen etc. verläuft, wie sie in Klöstern epidemisch beobachtet werden. Selten entstehen unheilbare Zustände von Verrücktheit (Hysteromanie, Hysteromelancholie). Verlauf und Dauer der H. sind an keine bestimmte Regel gebunden, die Krankheit kann Jahrzehnte hindurch in wechselnder Stärke bestehen; in den klimakterischen Jahren aber pflegt sie nachzulassen. Die H. ist heilbar, aber viele Fälle trotzen jeder Behandlung und werden kaum vorübergehend gebessert. Daß die Anlage zur H. durch eine vernünftige Erziehung und Lebensweise fern gehalten werden kann, wurde bereits oben erwähnt. Ist die Krankheit aber ausgebrochen, so wird zunächst den etwanigen Veranlassungen der H. nachzuforschen und auf Beseitigung derselben zu denken sein. Demnach werden Störungen an den Geschlechtsorganen örtlich zu behandeln, Blutarmut und Bleichsucht durch Eisen- und Chinapräparate zu bekämpfen, psychische Affekte schädlicher Art zu verhüten sein etc. In vielen Fällen ist eine durchgreifende Änderung der ganzen Lebensweise und der Ernährung gegen die H. von Erfolg, und zwar eignen sich hierzu die Kaltwasserkuren, die Seebäder, die Brunnenkuren in Marienbad, Kissingen u. dgl. Eine wichtige Rolle bei der Behandlung der H. spielen die sogen. Nervina, Mittel, von welchen wir vermuten, daß sie auf die Ernährung und den Stoffwechsel, speziell des Nervensystems, einen Einfluß ausüben. Die berühmtesten Nervenmittel dieser Art sind das Castoreum, der Baldrian (als Thee, Tinktur etc.), die Asa foetida. Das Bromkalium in großen Dosen, Bromäthyl-Einatmungen, Hyoscyamin und das Morphium sind bei Erregungszuständen im Klimakterium oft von vorzüglicher Wirkung. Von der allergrößten Bedeutung ist jedoch die psychische Behandlung der H., über welche sich keine allgemeinen Regeln aufstellen lassen. Über die Behandlung hysterischer Lähmungen vgl. Metalloskopie. Die Lähmungen werden auch durch innerliche Darreichung von Strychnin, die Krämpfe durch Krotonchloral gebessert.

Hysterisch, an Hysterie (s. d.) leidend.

Hysterium Fr. (Ritzenschorf), Pilzgattung aus der Unterordnung der Diskomyceten, mit einem anfangs geschlossenen, strichförmigen Perithecium, welches mit einer Längsritze lippenartig sich öffnet; kleine, wie kurze, schwarze Striche erscheinende Pilze in zahlreichen Arten, meist parasitisch an lebenden oder absterbenden Pflanzenteilen. Der Fichtenritzenschorf (H. macrosporum R. Hrtg., H. nervisequium Fr., Hypoderma nervisequium DC.) kommt an den zweijährigen Nadeln der Fichten vor, in deren Blattparenchym das Mycelium des Pilzes lebt; die Nadeln werden braun und fallen vorzeitig ab; die Perithecien entwickeln sich an den abgefallenen oder noch am Baum befindlichen Nadeln in Form schwarzer, strichförmiger Polster 2-6 Monate nach dem Braunwerden der Nadeln. Die Krankheit ist unter dem Namen Nadelbräune oder Nadelschütte der Fichte bekannt. Der Weißtannenritzenschorf (H. nervisequium DC., R. Hrtg.) erzeugt die Nadelbräune oder Nadelschütte der Weißtanne und tritt an den ältern Nadeln der Weißtannen unter denselben Krankheitserscheinungen auf; die Perithecien entwickeln sich auf der Rippe an der Unterseite der Nadeln. Eine nahe verwandte Gattung ist Lophodermium Chev., zu welcher der Kieferritzenschorf (L. Pinastri Chev.) gehört, der auf Nadeln junger Kiefern die Schüttekrankheit in Form rotbrauner Flecke und Bänder hervorruft.

Hysterocele (griech.), Gebärmutterbruch, s. Bruch.

Hysteromanie (griech.), Wahnsinn bei Frauen mit geschlechtlicher Erregung.

Hysteron proteron (griech., "hinterst-zuvorderst", Hysterologie), Redefigur, bei welcher die natürliche Ordnung der Rede umgekehrt, d. h. ein Wort oder ein Redesatz einem andern, dem er nach Zeitfolge und Logik nachstehen sollte, vorangestellt wird (z. B. bei Vergil: "Laßt uns sterben und uns mitten in die Feinde stürzen"). Dem entsprechend heißt auch H. in der Logik ein Schluß- oder Beweisfehler, bei welchem die natürliche Ordnung verkehrt, d. h. aus dem zu Folgernden gefolgert oder aus dem zu Beweisenden bewiesen, wird (Petitio principii, Kreisbeweis; vgl. Schluß).