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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Idealismus

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Idealismus.

heit erblicken, als es nach der Erfahrung besitzt, und sich dadurch die richtige, einfache Auffassung und Beurteilung der Dinge erschweren.

Idealismus, im Gegensatz zum Realismus (s. d.) diejenige philosophische Ansicht, welche die Erscheinungswelt, die Dinge außer unserm Geist, als Produkte der Vorstellung betrachtet, ihnen also nur insofern Existenz und Wirklichkeit beilegt, als sie in unserm Geist als Vorstellungen und Anschauungen, d. h. als ein Ideales, existieren (vgl. Ideal). Der I. gehört ausschließlich der neuern Philosophie an. In der Geschichte der Philosophie des Altertums und des Mittelalters finden sich kaum Anfänge desselben vor; die vorcartesianische Philosophie ist ihrem ganzen Wesen nach realistisch. Die Ausbildung des I. zum System hängt zusammen mit den Untersuchungen über die Möglichkeit objektiver Erkenntnis, mit welchen sich die Denker seit Descartes vorzugsweise beschäftigt haben. Indem dieser das denkende Subjekt als Ausgangspunkt alles Philosophierens setzte und gegen alles andre als ein Gegebenes protestierte, indem er ferner den Gegensatz zwischen Sein und Denken, Dasein und Bewußtsein nachwies und die Vermittelung dieses Gegensatzes (das Problem der ganzen neuern Philosophie) als philosophische Aufgabe hinstellte, waren auch die beiden Wege geöffnet, auf welchen die Philosophie von da an sich entwickeln mußte: der I. und der Realismus. Während aber Descartes und Malebranche noch nicht bis zum entschiedenen I. vordrangen und Spinoza sich über den Streit, was wahre Existenz habe, das Ideale oder das Reale, der Geist oder die Materie, dadurch erhob, daß er, das eine wie das andre verwerfend, nur die absolute Substanz, in der beide völlig aufgehen, als das Seiende anerkannte, alles Sein aber, das den Einzelwesen beigelegt wird, nur als Accidens an der einen allein realen Substanz gelten ließ, bildeten sich die entgegengesetzten Systeme des I. und Realismus fast gleichzeitig nebeneinander aus. Auf der realistischen Seite stehen die Empiriker Locke, Hume, Condillac u. a.; der I. findet seine bedeutendsten Vertreter zunächst in Leibniz und Berkeley. Der empiristisch-sensualistischen Richtung war das Geistige nichts als eine verfeinerte Materie; die idealistische Richtung sucht umgekehrt die Materie als ein vergröbertes Geistige (als verworrene Vorstellung, wie Leibniz sich ausdrückt) zu fassen. Für den einseitig realistischen Standpunkt waren die materiellen Dinge das wahrhaft Substantielle; umgekehrt setzt der idealistische Standpunkt die geistigen Wesen, die Ichs, als das Substantielle. Nach der erstern Ansicht war das Erkennen ein passives, nach der letztern wird es für ein aktives Verhalten erklärt. Hatte der Realismus das Werden und Geschehen in der Natur vorzugsweise aus realen Bestimmungsgründen, d. h. mechanisch, zu erklären gesucht, so suchte es der I. umgekehrt aus idealen Bestimmungsgründen, d. h. teleologisch, zu erklären, indem er in den Zweckbegriff, in die teleologische Harmonie aller Dinge (prästabilierte Harmonie), die Vermittelung zwischen dem Geistigen und Materiellen, zwischen Denken und Sein, setzte. Leibniz führte die idealistische Auffassung noch nicht bis zur äußersten Konsequenz durch. Er bezeichnete zwar Raum, Bewegung und die Körperdinge als Phänomene, die nur in der verworrenen Vorstellung existierten; doch leugnete er anderseits das Dasein einer substantiellen Grundlage der Körperwelt nicht, sondern nahm eine Monadenwelt an, an welcher die erscheinende Körperwelt ihr festes Fundament habe. Die Verbindung des Geistigen und Körperlichen erklärte ihm die prästabilierte Harmonie, eine von Ewigkeit her nach teleologischen Zwecken bestimmte Weltordnung, bei welcher die Intelligenz die Hauptrolle spielt, die Materie zwar nicht als solche, aber durch ihre reale Grundlage, die einfachen Substanzen, vertreten erscheint. So hat Leibniz, obwohl im wesentlichen dem I. huldigend, doch mit dem Realismus nicht gebrochen. Viel weiter ging Berkeley. Er leugnete geradezu, daß die Sinnendinge anderswo als in der Vorstellung Existenz haben, und bezeichnete jene deshalb als etwas rein Mentales. Es existieren nach ihm bloß Geister, d. h. denkende Wesen, deren Natur im Vorstellen und Wollen besteht. Er leugnet dabei nicht, daß die Dinge eine von unsrer Vorstellung unabhängige Realität haben; aber sie existieren doch nur in einem Verstand, nämlich in Gott, wo ihre Urbilder liegen, und nur unmittelbar durch Gott erhalten wir von ihnen Vorstellungen; denn nur ein Geistiges kann auf unsern Geist einwirken. Der Berkeleysche I. erklärt also nicht den menschlichen, sondern den göttlichen Geist für den Urheber der Vorstellungen von einer scheinbar realen Welt. Den Berkeleyschen I. hat man später den dogmatischen genannt, weil er auf der positiven Annahme des Aufgehobenseins des Materiellen in Gott ruht.

Der eben geschilderte I. hatte dem Ich die Rolle der reinen Aktivität, der Selbstgenügsamkeit, der Souveränität über die Sinnenwelt übertragen, während der Empirismus dasselbe zur reinen Passivität verdammte. Kant suchte die Ansprüche beider auszugleichen, indem er sich dahin entschied: das Ich ist frei und autonom, unbedingter Gesetzgeber seiner selbst als praktisches Ich; es ist rezeptiv und durch die Erfahrungswelt bedingt als theoretisches Ich; jedoch auch als solches ist es nicht rein passiv, nicht toter Spiegel der Außendinge; denn wenn einerseits auch der Stoff aller unsrer Erkenntnisse aus der Erfahrung stammt, so brauchen wir doch zur Erfahrung Begriffe, die nicht durch die Erfahrung gegeben werden, sondern als ein geistiger Faktor a priori in unserm Verstand enthalten sind. Kant kommt so zu dem Satz, daß wir nur Erscheinungen, nicht die Dinge an sich zu erkennen vermögen. Der von der Außenwelt aus gebotene Erfahrungsstoff wird durch unsre eignem subjektiven Zuthaten (die Begriffe des Raums, der Zeit und die allgemeinen Verstandeskategorien) so zubereitet und bez. alteriert, daß er, wie der Widerschein eines leuchtenden Körpers, der auf einer Glasfläche mannigfaltig gebrochen wird, nicht mehr die Sache rein und unvermischt in ihrer ursprünglichen Beschaffenheit darstellt. Bis hierher ist das Kantsche System nichts weniger als reiner I.; es ist vielmehr eine Vermittelung zwischen I. und Realismus, ein kritischer I. Nun aber erhebt es sich in der praktischen Philosophie schlechthin über das Gegebene (den sinnlichen Trieb) hinaus. Der praktische Geist ist nur durch das Sittengesetz, das er selbst ist, bestimmt, also frei und autonom; die Objekte sind nicht mehr seine Herren und Gesetzgeber, denen er sich zu fügen hat, wenn er der Wahrheit teilhaftig werden will, sondern seine Diener, die selbstlosen Mittel zur Verwirklichung des Sittengesetzes. War der theoretische Geist an die Sinnenwelt geknüpft, so gehört der praktische kraft der ihm wesentlichen Freiheit, vermöge seiner Richtung auf den absoluten Zweck einer rein intelligibeln, übersinnlichen Welt an. Dies ist der praktische, transcendentale I. Kants, aus dem er sofort die drei praktischen Postulate, die Unsterblichkeit der Seele, die sittliche Freiheit und das Dasein Gottes, ableitet.