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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Italien

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Italien (Geschichte: bis 1878).

ein neues Bankgesetz die Abschaffung des Zwangskurses für das Papiergeld anzubahnen.

Von besonderer Bedeutung wurde das Ministerium Minghetti für die auswärtige Politik Italiens. Die Haltung Frankreichs nach dem deutsch-französischen Krieg flößte I. allerdings einige Besorgnis ein. Thiers war stets ein ebenso heftiger Gegner der Einheit Italiens wie der Deutschlands gewesen; um so bereitwilliger ging er daher auf die Wünsche der Klerikalen ein, die, über die Besetzung Roms von Wut entbrannt, am liebsten die Schmach von 1870 durch einen Kreuzzug nach I. getilgt hätten. Es blieb nicht nur der französische Botschafter beim Vatikan, sondern Thiers gab ihm 1872 auch einen Militärattaché bei und empfing beim internationalen metrischen Kongreß in Paris den Pater Secchi als Gesandten des Souveräns des Kirchenstaats, wogegen er damit zögerte, den Sitz des französischen Gesandten am italienischen Hofe von Florenz nach Rom zu verlegen. Im Hafen von Civitavecchia ankerte eine französische Fregatte, der Orénoque, um im Notfall den Papst bei der Flucht aus der Gefangenschaft aufzunehmen. Da I. Bedenken tragen mußte, allein einen Krieg mit Frankreich zu wagen, so suchte es bei den Ostmächten, Österreich und Deutschland, eine Stütze. Nachdem bereits 1872 Kronprinz Humbert nebst Gemahlin einen Besuch in Berlin gemacht, trat, nach Thiers' Sturz und nach dem Emporkommen der Ultramontanen in Frankreich im Mai 1873, der König selbst in Begleitung Minghettis und des auswärtigen Ministers Visconti-Venosta im September 1873 eine Reise nach Wien und Berlin an, welche in I. mit großen Beifallsbezeigungen begleitet, und durch welche Italiens Anschluß an das Dreikaiserbündnis besiegelt wurde. Hierdurch ward die italienische Regierung so gekräftigt, daß sie Frankreich gegenüber energischer auftreten konnte, im Oktober ihren Gesandten Nigra von Paris zeitweilig abberief und das Klostergesetz, welches die Aufhebung fast aller Klöster und den Verkauf ihrer Güter anordnete, auch in Rom streng durchführte. Frankreich gewährte I. 1874 die Genugthuung, daß es die Fregatte Orénoque abberief. Im Frühjahr 1875 erwiderte Kaiser Franz Joseph in Venedig, im Oktober Kaiser Wilhelm in Mailand die Besuche des Königs.

Indes trotz dieser Erfolge wurde das Ministerium Minghetti, nachdem wiederholte Angriffe der Linken 1875 mit Mühe durch Erteilung von Vertrauensvoten abgeschlagen worden waren, im März 1876 infolge des Abfalles eines Teils der bisherigen Majorität, nämlich des linken Zentrums und der sogen. Toscaner oder Liberisten, zur Opposition gestürzt. Hiermit hatte die Herrschaft der Consorteria, der altliberalen Partei, welche sich um den Kern des alten sardinischen Parlaments gebildet hatte, ihr Ende erreicht, nachdem sie 1860-76 die Regierung in Händen gehabt und die Einheit des Königreichs geschaffen sowie die Finanzen geregelt hatte. Das neue Kabinett ward von den Führern der Linken unter dem Vorsitz von Depretis gebildet; neben alten Radikalen und Garibaldinern hatten besonders die Süditaliener in demselben das Übergewicht. Bei den Neuwahlen 5. Nov. 1876 erlangte es das entschiedenste Übergewicht; die ministerielle Partei zählte in der Deputiertenkammer 400 Stimmen, die Altliberalen nur 100. Als ihre Hauptaufgaben bezeichnete die Partei die Abschaffung der besonders drückenden Mahlsteuer und die Reform des Wahlgesetzes durch Erweiterung des Stimmrechts. Aber sobald die Regierung mit positiven Gesetzvorlagen vor die Kammer trat, stieß sie bei ihrer eignen Partei wiederholt auf Widerstand, und die Zersplitterung in der Linken, welche sich in mehrere Gruppen auflöste, wurde durch den Ehrgeiz und die Eifersucht ihrer Führer immer größer und unheilbarer. Die versprochenen Hauptreformen verzögerten sich. Die durchgebrachten Gesetze über den obligatorischen Elementarunterricht und über die Inkompatibilität, welch letzteres alle Geistlichen, Universitätsprofessoren und die meisten Beamtenklassen von der Deputiertenkammer ausschloß, befriedigten nicht. Daher fanden wiederholt Ministerkrisen und ein fortwährender Ministerwechsel statt.

Der König verhielt sich streng konstitutionell und fügte sich der Majorität der Kammer. Als Viktor Emanuel 9. Jan. 1878 plötzlich starb, folgte ihm sein einziger Sohn, Humbert (Umberto). Derselbe befolgte genau die politischen Grundsätze seines Vaters. Im März 1878 bildete der alte Republikaner Cairoli ein neues Ministerium der Linken, mußte aber schon im Dezember wieder Depretis weichen; indem sich einzelne Gruppen der Linken mit der Rechten vereinigten, vermochten sie auch gegen die Majorität ihrer Partei die Minister zu stürzen. Depretis scheiterte schon im Juli 1879 an der Mahlsteuervorlage, welche infolge der Opposition des Senats noch nicht erledigt war. Das neue Ministerium Cairoli erlangte in der Kammer nur die Annahme des Gesetzes über die schrittweise Abschaffung der Mahlsteuer, welcher 1880 auch endlich der Senat zustimmte, und vereinigte sich im November 1879 mit Depretis, der in das Kabinett eintrat, um die zweite Aufgabe der Linken, die Wahlreform, sowie ferner die Abschaffung des Zwangskurses in Angriff zunehmen. Die von der Regierung ausgeschlossenen Führer der Linken, wie Crispi, Zanardelli, Grimaldi u. a., vereinigten sich mit der Rechten und setzten 29. April 1880 ein Tadelsvotum gegen das Kabinett Cairoli durch. Das letztere antwortete darauf mit der Auflösung der Kammer, erlangte aber bei den Neuwahlen im Mai keine Besserung seiner Stellung, wenn auch die oppositionelle Linke vorläufig sich der Angriffe enthielt und die neue Kammer, nachdem das Ministerium die Gesetzentwürfe über die Wahlreform und die Abschaffung des Zwangskurses vorgelegt hatte, demselben 30. Nov., allerdings mit geringer Majorität, ein Vertrauensvotum erteilte. Der letztere Entwurf, welcher bestimmte, daß die Noten der Banken (1860 Mill.) teils eingezogen und durch 640 Mill. Gold- und Silbergeld ersetzt, teils in Staatspapiergeld verwandelt werden sollten, das stets in Gold einzulösen sei, wurde im April 1881 Gesetz und, nachdem eine Anleihe von 644 Mill. aufgenommen worden, 12. April 1883 mit der Ausführung begonnen, die ohne Schwierigkeiten von statten ging, so daß I. einen bedeutenden Fortschritt in der Heilung seiner Finanzverhältnisse zu verzeichnen hatte. Die Rente, welche 1870 auf 30 herabgesunken war, stieg fast auf pari, und auch die Handelsbilanz besserte sich in außerordentlicher Weise. Die Beratung der Wahlreform wurde aber durch ein Ereignis der auswärtigen Politik unterbrochen.

Unter dem Einfluß ihrer doktrinär-radikalen Idee hatten nämlich Depretis und Cairoli die engen Beziehungen zu den drei Kaisermächten gelöst und es vorgezogen, eine Politik der freien Hand zu befolgen, in der Hoffnung, durch diese am leichtesten von den Umständen Vorteil zu ziehen und I. eine neue Gebietsvergrößerung verschaffen zu können. Ja, die Minister duldeten sogar, daß 1878 die Agitation der Italia irredenta ganz offen die Annexion von Welschtirol und Istrien nebst Triest als italienischen Län-^[folgende Seite]