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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Jesus Christus

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Jesus Christus (Stellung zur alttestamentlichen Messiasidee).

durch festgehaltene und z. B. von Julius Africanus vertretene Überlieferung der Kirche, wonach Jesus ein volles Jahr oder auch ein Jahr und etliche Monate öffentlich gewirkt hätte.

Auch die äußern Umrisse dieses öffentlichen Auftretens lassen sich noch mit hinreichender Bestimmtheit feststellen, während sie zugleich ausreichende Anhaltspunkte ergeben zur richtigen Beurteilung des geistigen Bildes, in welchem sich die alttestamentliche und jüdische Messiasidee auf dem Grunde des religiösen und sittlichen Bewußtseins Jesu abzeichnete. Charakteristisch ist gleich der Anfang und Anlaß der öffentlichen Laufbahn. Während von den Tagen jenes Galiläers Judas bis zu den Zeiten des erklärten Messias Bar-Kochba (s. d.) unter Hadrian, also im Laufe von 4-5 Menschenaltern, die messianische Idee sich, soweit sie ihre Spuren auf dem breiten Fahrwasser des jüdischen Volkslebens zurückließ, fast ganz nur als ein politisches, stetig auf Rebellion gegen Rom hinarbeitendes, darum auch nur verhängnisvoll wirksames Ferment des nationalen Bewußtseins erwiesen hat, ist Jesus nicht etwa erst später, als er das Wort vom Zinsgroschen sprach, gänzlich aus diesen Geleisen herausgetreten, sondern war denselben entwachsen, seitdem der erste zündende Funke in seine Seele gefallen. Die Stimme, die ihn aus der Stille und Zurückgezogenheit des bis in sein gereiftes Mannesalter zu Nazareth geübten Zimmermannshandwerks (Mark. 6, 3) auf den öffentlichen Schauplatz rief, war "die Stimme eines Predigers in der Wüste", es war die gewaltige Bewegung, welche ein Mann hervorgerufen hatte, der sich bewußt war, unmittelbar an der Schwelle des messianischen Zeitalters zu stehen, der aber zugleich dieses bevorstehende Reich auf lauter Vorbedingungen rein sittlicher Art gründen wollte. Dies war Johannes der Täufer (s. d.). Was man auch bezüglich der Einflüsse, die, sei es von essäischer, sei es von pharisäischer Seite her, auf Jesus erfolgt wären, vermutet hat, mit Sicherheit läßt sich, abgesehen von den Bildungselementen, welche dem heranwachsenden Sohne Nazareths der Verkehr mit den Lehrern der Synagoge und die eigne selbständige Lektüre des Alten Testaments lieferten, nur noch reden von dem tiefgehenden, lange nachwirkenden Eindruck, den die Gestalt des Wüstenpredigers auf ihn gemacht hat, der da kein Rohr war, im Wind hin- und herbewegt, kein Mann in weichen Kleidern, wie sie in den Häusern der Könige eine entsprechende Moral predigen, aber ein Prophet und mehr als ein Prophet (Matth. 11, 7 ff.). Und doch wußte sich Jesus in dem Moment, als er dieses Wort über den Täufer gesprochen hat, auch schon innerlich von ihm geschieden. Zwar gehörte auch er zu den Zahllosen, die dem Aufruf des Täufers Folge geleistet und am Jordan die Taufe empfangen hatten; ja, auch er hat anfangs nur dieselbe Rede geführt wie der Täufer: "Nahe ist das Himmelreich"; aber dieses sein "Himmelreich" war doch ein andres als jenes gut alttestamentliche Königtum Gottes, wie es im Anschluß an die Reden der Propheten eben noch ihr letzter und größter verkündigt hatte (Matth. 11, 11). Bezeichnend für die sittliche Vertiefung, die Jesus dem Begriff des messianischen Reichs gab, sind vielmehr jene Seligpreisungen, womit die Bergpredigt beginnt. Wenn hier die Nichtshabenden gepriesen werden, die doch alles haben; die nach der Gerechtigkeit Hungernden und Durstenden, weil sie satt werden sollen; die reinen Herzens sind, weil sie Gott schauen; die Friedensstifter, weil sie Gottes Kinder heißen werden (Matth. 5, 3 ff.): so spricht sich in alledem ein vom reinsten und tiefsten Gefühl aller drückenden Widersprüche des zeitlichen Daseins getragenes Bewußtsein aus, aber auch ein Bewußtsein, welches in demselben Augenblick, da es seine Schranken anerkennt, schon über dieselben erhaben ist und sich sammelt im seligen Gefühl der Einheit der eignen Lebenszwecke mit dem seiner Erfüllung allein ganz sichern Zweck Gottes. In nichts anderm aber besteht das eigentliche Wesen der Religion (s. d.).

Während also nach der im Judentum herrschenden Weltanschauung vornehmlich Siege über die Feinde, Herrschaft über alle Heiden und ein glänzendes Genußleben zu den Merkmalen der dem ganzen Volk als Lohn für seine Gesetzestreue in Aussicht gestellten messianischen Herrlichkeiten gehören, bieten dafür die von der Reichspredigt Jesu angeschlagenen Töne eine Reihe von wechselnden Ausdrücken für das in ihm mächtig pulsierende und ihn ganz ausfüllende Leben der Religion selbst. Was aber so in der unmittelbaren Erfahrung einer unvergleichlich intensiv arbeitenden, aufnehmenden und ausgebenden religiösen Natur mit Einem Schlage gesetzt ist, das selige Gefühl unverkümmerter Einheit mit sich selbst, mit Gott und mit seiner Schöpfung, das legt sich für die nach Ausdruck ringende Vorstellung in einer Zweiheit von religiösen Begriffen auseinander, zu deren Bezeichnung die Namen "Vater" und "Sohn" dienen. Der Name "Vater", im Alten Testament nur vereinzelt und wie zufällig einigemal anklingend, ist in der Verkündigung Jesu zum eigentlich begriffbestimmenden Namen Gottes geworden, wie denn auch in den urchristlichen Gemeinden Jesu Gebetsruf "Abba" widertönte und die Apostel stetig grüßen "vom Vatergott und seinem Sohn J." Nennt sich dem entsprechend Jesus selbst aber den "Sohn", so geschieht solches wenigstens in den synoptischen Evangelien noch ganz im Zusammenhang und unter Voraussetzung derselben Weltanschauung, der zufolge auch in der Bergpredigt gerade die "Söhne Gottes" heißen, welche dasjenige auf dem Weg zeitlicher Entwickelung und sittlichen Wachstums zu werden im Begriff sind, was der über alles Zeitliche erhabene Gott im Himmel ewig ist, der auch ebendeshalb, weil er immer ist, was Menschen jederzeit nur werden sollen, "Vater" heißt (Matth. 5, 9. 45. 48). Indem nun Jesus den jüdischen Messiasbegriff in der Richtung vertiefte, daß daraus der Sohn wurde, welcher allein den Vater erkannt und der Welt geoffenbart hat (Matth. 11, 27), also der Schöpfer des wahren Gottesbewußtseins ist, war er sich wohl bewußt, in einen unversöhnlichen Widerspruch mit den glänzenden Messiasträumen seines Volkes zu treten. Es ist daher nicht zufällig geschehen, wenn er im Anfang seiner Reichspredigt überhaupt mit Enthüllungen über seine eigne Person zurückhielt. Was er predigte während der ersten glücklichen Wochen und Monate des "galiläischen Frühlings", das ist die Kunde vom Reiche Gottes, welches nahe, ja welches schon dasei. Mit inbrünstiger Wonne kündigt er der Welt den Vater an, dessen ewige Liebesherrlichkeit ihm die Lilien auf der Flur und die goldene Saat auf den Feldern, wovon die "Gleichnisse" sprechen, noch mehr aber freilich die innere Harmonie des eigensten persönlichen Lebens offenbarte, kraft derer er der vollen Strömung göttlichen Lebens im menschlichen erfahrungsmäßig gewiß geworden war. Sofort sehen wir solche, die glauben oder gern glauben möchten an sein Wort, ihm begierig folgen; verehrende und dienende Frauen sitzen zu seinen Füßen, ja selbst Heilungen gehen von der Gesundkraft seines Wesens aus, und wunderhafte Wohl-^[folgende Seite]