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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Joseph

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Joseph (deutsche Kaiser: Joseph II.).

sophischen Fakultät in Wien (später Direktor der orientalischen Akademie), und selbst Bartenstein (s. d.) anschlossen, welcher durch sein ungeheuerliches Geschichtskompendium in mehreren Foliobänden die Wißbegierde des Prinzen ebensowenig fesseln konnte, als dies dem schablonenmäßigen Unterricht so manches der andern Lehrer gelang. Es waren namentlich die doktrinären und unfruchtbar schematisierenden Vorträge, welche den jungen Prinzen langweilten und zu einer ungeordneten, oberflächlichen und wenig verstandenen Lektüre, besonders der neuen französischen Litteratur, haltlos forttrieben. Bei aufgewecktem Geist, rascher Fassungsgabe und dem lobenswerten Bestreben, sich durch eigne Anschauung über alles ein selbständiges Urteil zu bilden, wurde J. bald von dem Gefühl der Vereinzelung und Vereinsamung erfaßt, welchem die flüchtigen Berührungen mit hervorragenden und von ihm selbst aufgesuchten bedeutenden Männern kein beruhigendes Gegengewicht gaben. Die Meinung, in allem selbst handeln und entscheiden zu müssen, und die durchgreifende, rein persönliche Regierungsweise des großen Monarchen mochten in diesen Umständen ihren Ursprung gefunden haben. 1764 wurde J. zum römischen König gewählt und gekrönt, und da schon im folgenden Jahr sein Vater starb, so schien sich seiner Thätigkeit ein weites Feld zu eröffnen; aber der Wille der Kaiserin wie die feste und der monarchischen Willkür widerstrebende ständische Verfassung des Reichs setzten derselben die engsten Grenzen. Obwohl J. in den Erbländern von der Kaiserin zum Mitregenten erklärt war, beschränkte sich sein Einfluß auf das Militärwesen, an welchem er bei aller Bewunderung Friedrichs II., mit dem er im August 1769 in Neiße und im September 1770 zu Neustadt in Mähren Zusammenkünfte hatte, doch kein großes innerliches Interesse fand, und die äußere Politik. Hier trieb Josephs Ehrgeiz Österreich zum Anteil an der Teilung Polens und durch das Projekt der Erwerbung Bayerns zum bayrischen Erbfolgekrieg. Sein Geist beschäftigte sich fast ausschließlich mit den volkswirtschaftlichen und kirchlichen Angelegenheiten, in welchen er seine liebsten Reformgedanken mit Ungeduld bis zur Zeit seiner Alleinregierung zurückgedrängt sah. Mit der Kaiserin stand er auch persönlich nicht auf gutem Fuß, obwohl er sich gern als "gehorsamer Sohn" bezeichnete, als solcher angesehen sein wollte und bei ihrem Tod auch das stürmische Gefühl des Schmerzes nicht verleugnete. Aber je größer die Kluft zwischen ihm und der frommen, von weiblicher Beängstigung erfüllten Mutter wurde, desto weniger war ein Umgang möglich, der die Gegensätze persönlich zu mildern vermocht hätte. Dem unaufhörlichen Drängen Maria Theresias, J. möge zur Beichte gehen und die Kirche besuchen, vermochte der Kaiser auch durch zeitweilige Erfüllung des Wunsches nicht zu genügen.

Als nun Maria Theresia 1780 starb, sollte sich das Wort Friedrichs II.: "Voilà nouvelle ordre des choses!" in unglaublicher Eile bewahrheiten; denn sofort ließ J. nichts an seiner Stelle, und eine Flut von Gesetzen und Verordnungen, welche meistens jeder verfassungsmäßigen, häufig auch jeder büreaukratischen Grundlage entbehrten und der umfassendsten, auch im 18. Jahrh. nicht ganz gewöhnlichen Geltendmachung des absoluten Systems entsprangen, ergoß sich über alle ungleichartigen Völker und Staaten der alten habsburgischen Hausmacht, welche, mit Beseitigung des verschiedenen Verfassungswesens und der ständischen Vertretung, als vollkommen gleichgestellte Glieder vom Kabinett des Kaisers aus, als "Verwalters" des Staats, nach den gleichen Gesetzen regiert werden und einen uhrwerkartig geregelten Organismus mit deutscher Amtssprache ausmachen sollten. Von der richtigen und klaren Einsicht geleitet, daß die Herrschaft des römischen Stuhls und der katholischen Hierarchie beseitigt werden müsse, wenn die österreichische Verwaltung zur Selbständigkeit des modernen Staatsbegriffs erhoben werden solle, begann er mit entschlossenem Sinn alle die Bande vorerst zu lösen, welche österreichische Unterthanen von der päpstlichen Gewalt abhängig machten. Wie durch die Verordnung vom 4. Mai 1781 die anspruchsvollsten Bullen der römischen Kirche aus allen Ritualbüchern und kirchlichen Sammlungen gestrichen wurden, so verfügte J. auch die Aufhebung der päpstlichen Dispense, der Rekurse, des Bischofseides und der Litterae apostolicae, die Einführung des Placet, das Verbot der Annahme päpstlicher Ämter und Titel und des Besuchs der in Rom befindlichen theologischen Anstalten. Diesen wichtigen Reformen folgten zahlreiche Aufhebungen von Klöstern, Einziehung des Vermögens derselben und die Gründung des Religionsfonds sowie die Dotation von trefflichen Unterrichts- und Humanitätsanstalten aus dem konfiszierten Klostergut. Aber schon die Durchführung dieser Maßregeln zeigte erhebliche Mißstände und Willkürlichkeiten. Bald griff die Regierung Josephs auch in die internen Angelegenheiten der Kirche und des Gottesdienstes ein. "Andachtsordnungen", Gesetze gegen den "kirchlichen Flitterstaat", Verordnungen über Prozessionen, Wallfahrten, Ablässe und das unglückliche Gebot des Begrabens der Toten in Säcken, ohne Kleider und in Kalkgruben, alle diese Dinge, welche bestimmt waren, "Aufklärung" zu bewirken, erregten Haß und Verdruß, selbst tiefer gehenden Widerstand seitens des Volkes. Dabei hielt J. doch sehr bestimmt den Begriff der Staatskirche als einer katholischen aufrecht. Wie in der politischen Verwaltung, so hielt er auch in kirchlichen Dingen Einheit und Gleichheit für die wesentlichste Grundlage des Staatslebens. Das Verhältnis der nichtkatholischen Konfessionen vermochte er daher nicht anders als unter dem Gesichtspunkt einer möglichst weit gehenden Toleranz zu fassen. Obwohl sich nun in Ländern, wo die religiösen Fragen längst durch gesetzliche Bestimmungen geregelt waren, wie in Ungarn, eine berechtigte Opposition gegen das "Toleranzpatent" gerade von seiten der Protestanten erhob, so wirkten doch die damit zusammenhängenden Verordnungen segensreich auf die Zustände in den andern Ländern, wo endlich ein anderthalbhundertjähriger Druck von vielen protestantischen Gemeinden hinweggenommen wurde. Um übrigens den Übertritt von der katholischen Religion zu andern Konfessionen zu verhindern, schrak J. selbst vor manchen Zwangsmaßregeln nicht zurück, und wie er die Sekte der Deisten durch "Karbatschenstreiche" ausrotten wollte, so fehlt es auch nicht an Beispielen harter Kabinettsjustiz gegenüber von Mönchen, welche aus eignem Entschluß ihren Orden verlassen wollten, oder gegen Protestanten, welche wegen Proselytenmacherei Verdacht erregten.

Um den Neuerungen Josephs in Österreich ein Ziel zu setzen, begab sich der Papst Pius VI. 1782 persönlich nach Wien, ohne jedoch etwas zu erreichen. Mit großer Absichtlichkeit wurde jede geschäftliche Verhandlung vermieden, und Fürst Kaunitz empfing den Papst in seinem Palast lediglich als Privatperson. Keinen Augenblick wurde die Reform unterbrochen, vielmehr auch auf das Gebiet der Diözesaneinteilung ausgedehnt, wobei dem Kaiser ernstlichere Schwie-^[folgende Seite]