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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Keilschrift

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Keilschrift (Entzifferung).

richtete ein junger deutscher Gymnasiallehrer, G. Grotefend, seine Aufmerksamkeit, und es gelang ihm (1802-15), in einer Anzahl öfter wiederkehrender, durch den Worttrenner (den schon Grotefends Vorgänger erkannt hatten) abgeteilter Zeichengruppen die Namen des Dareios, Xerxes und Hystaspes und den alten persischen Königstitel "König der Könige" nachzuweisen. Diesen Titel vermutete er richtig in einer öfter doppelt, nur das zweite Mal um vier Zeichen vermehrt erscheinenden Gruppe; die hinzutretenden vier Zeichen drücken hierbei die Genitivendung aus. Die vor dem Titel stehenden Königsnamen erschloß er aus dem Umfang der betreffenden Gruppen und aus dem Umstand, daß in einer der Inschriften, da, wo er den Namen des Vaters des betreffenden Königs vermutete, der Königstitel hinter demselben fehlte, woraus Grotefend entnahm, daß Hystaspes gemeint sein müsse, der selbst nicht König, aber der Vater des Dareios war. Nachdem durch diese wichtige Entdeckung der Lautwert von zwölf Zeichen richtig bestimmt war, erkannte man in der Sprache der ersten Gattung, auf die sich zunächst die Forschung beschränkte, deutlich eine indogermanische Sprache, die Mutter des Neupersischen und die Schwester des Zend, d. h. der Sprache des Zendavesta, das in Ostiran entstanden ist. Teils die Fortschritte in der Entzifferung der letztern, mit dem "Altpersischen", wie es nun genannt wurde, sehr nahe verwandten Sprache (s. Zend), teils die Ähnlichkeit mit dem Sanskrit, teils die geschickte Benutzung der von Herodot und andern griechischen Autoren aufbewahrten Nachrichten über die alte persische Geschichte bildeten die Grundlage der scharfsinnigen Vermutungen und Kombinationen, durch welche Rask, Beer, Westergaard, Hitzig, Holtzmann, Burnouf, Oppert, Rawlinson u. a. nach und nach die etwa 60 Zeichen, aus denen die Buchstabenschrift der ersten Gattung besteht, mit Sicherheit feststellten. Vgl. Spiegel, Die altpersischen Keilinschriften, mit Übersetzung, Grammatik und Glossar (Leipz. 1862). Lassens Untersuchungen waren sehr durch die zuverlässigen Abschriften erleichtert worden, welche der ausgezeichnete dänische Orientalist Westergaard in Persepolis mit Hilfe eines Fernrohrs von den dortigen Inschriften genommen hatte, während Rawlinson die gleichfalls hoch oben an einem Felsen angebrachte große Inschrift des Dareios zu Bisutun (Behistun) selbst mit Lebensgefahr kopiert hatte. Eine unvergleichlich größere Anzahl von Keilinschriften wurde der Forschung durch die Ausgrabungen von Botta (1843-1846), Layard (1848 ff.), Oppert (1852 ff.), Rawlinson, George Smith, Rassam u. a. auf den Ruinen von Ninive und Babylon zugeführt. Nicht nur die aus den Palästen der assyrischen und babylonischen Herrscher stammenden Kolossalstatuen von Götterbildern, beflügelten Stieren u. dgl., die jetzt in den Sammlungen des Britischen Museums und des Louvre die Aufmerksamkeit der Fremden fesseln, sind mit Keilschriftzeichen bedeckt, sondern es sind in Ninive-Kujundschik auch die Tausende von beschriebenen Thontafeln und Thoncylindern aufgefunden worden (zuerst durch Layard 1850), leider zum Teil in zerbrochenem Zustand, aus denen die Bibliothek des berühmten assyrischen Königs Assurbanipal, des Sardanapalus der Alten, bestand. Weitaus der größte Teil der hier ausgegrabenen Keilinschriften befindet sich jetzt in London, die übrigen sind in Paris, und es ging daher auch ihre Entzifferung von England und Frankreich aus. Schon die Untersuchung der altpersischen Keilinschriften hatte zu dem Ergebnis geführt, daß von den beiden andern Gattungen der K., welche die altpersischen Keilinschriften begleiten, die zweite Gattung eine ganz eigentümliche agglutinierende, die dritte eine semitische Sprache enthalte. Wie heutzutage ein türkischer Pascha seine Erlasse in drei Sprachen verkündet, einer agglutinierenden, einer semitischen und einer indogermanischen, nämlich Türkisch, Arabisch und Neupersisch, so faßten die altpersischen Großkönige ihre Edikte in den drei Hauptsprachen ihres Reichs ab: in dem indogermanischen Altpersisch, in einer agglutinierenden Sprache, die in Susiana oder Medien gesprochen wurde, und in der semitischen Sprache von Babylonien. Sofort erkannten nun die Entzifferer in den meisten neugefundenen Keilinschriften die nämliche semitische Sprache wieder, die sie in der dritten Gattung der persischen Keilinschriften vorgefunden und teils mit Hilfe der persischen Texte, teils durch Vergleichung mit den übrigen semitischen Sprachen bereits großenteils entziffert hatten. Eine große Erleichterung gewährten ferner die in Ninive gefundenen sogen. Syllabare, d. h. zur Bequemlichkeit der assyrischen Schreiber angefertigte dreispaltige Listen von Keilzeichen, worin die mittelste Spalte das zu erklärende Schriftzeichen, die linke seinen Lautwert, die rechte seine Bedeutung als assyrisches Wort enthält. Anderseits hatten jedoch die Entzifferer auch sehr große Schwierigkeiten zu überwinden, welche ihnen die außerordentlich große Anzahl der niemals einzelnen Laute, sondern stets ganze Silben oder sogar Gruppen von Silben ausdrückenden Zeichen und außerdem die Mehrdeutigkeit (Polyphonie) eines Teils derselben bereiteten. Letztere von Rawlinson gemachte Entdeckung erschütterte den Glauben des Publikums an die Ergebnisse der Entzifferung, weshalb die Asiatische Gesellschaft in London den vier hervorragendsten Entzifferern, Oppert, Hincks, Rawlinson und Talbot, zu gleicher Zeit und ohne daß sie voneinander wußten, eine umfangreiche assyrische Inschrift zur Erklärung vorlegte. Die Übersetzungen, die sie versiegelt einsandten, wurden von einer Kommission geprüft, in allen Hauptpunkten übereinstimmend befunden und 1857 veröffentlicht ("An inscription of Tiglath Pileser, King of Assyria, as translated by Rawlinson, Talbot, Dr. Hincks, and Oppert"). Mit den Arbeiten Opperts, der von Napoleon III. durch Verleihung des Volney-Preises ausgezeichnet wurde, trat das Studium des Assyrischen in das grammatische und lexikographische Stadium, und es liegen jetzt bereits mehrere Handbücher für Anfänger vor: Oppert, Éléments de la grammaire assyrienne (2. Ausg., Par. 1867); Ménant, Syllabaire assyrien (das. 1869-72); Derselbe, Éléments d'épigraphie assyrienne (das. 1880); Sayce, An elementary grammar of the Assyrian language (Lond. 1875), woselbst etwa 500 assyrische Schriftzeichen aufgezählt werden; F. Delitzsch, Assyrische Lesestücke (2. Aufl., Leipz. 1878); Derselbe, Assyrisches Wörterbuch zur gesamten bisher veröffentlichten Keilschriftlitteratur (das. 1887); Budge, Assyrian texts (Lond. 1880) u. a.

Hand in Hand mit der Entzifferung der Inschriften ging aber noch eine weitere Entdeckung, die überraschendste und folgenreichste von allen, die auf diesem Gebiet gemacht worden sind. Man erkannte, daß in den erwähnten dreispaltigen Syllabaren die erste Spalte nicht bloß eine besondere, zur Veranschaulichung der Aussprache dienende Gattung von Zeichen, sondern zugleich Überreste einer selbständigen alten Sprache vorliegen, der nämlichen, die auch auf zahlreichen andern Thontäfelchen vorkommt, wo sie