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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Kinderhorte; Kinder Israel; Kinderkrankheiten; Kinderlieder

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Kinderhorte - Kinderlieder.

Kinderhorte (Knabenhorte), Erziehungsanstalten, welche schulpflichtige Kinder während der Zeit aufnehmen, in der sie nicht durch den Schulunterricht in Anspruch genommen sind und daheim, weil die Eltern außer dem Hause arbeiten, ohne Aufsicht sein würden. Auf das Bedürfnis derartiger Anstalten, besonders für Knaben, machte 1871 der Erlanger Professor Schmid-Schwarzenberg aufmerksam und begründete, ihm abzuhelfen, den "Verein für Volkserziehung", der es sich angelegen sein ließ, für aufsichtslose Schulknaben einen Knabenhort einzurichten. Dieser Vorgang fand in Bayern manche erfreuliche Nachfolge, namentlich traten 1878 in Augsburg, 1881 in München, 1883 in Fürth, 1884 in Bamberg und Nürnberg Vereine zur Förderung der Knabenhorte zusammen. Nachdem im letztbezeichneten Jahr die Begründung ähnlicher Asyle vom bayrischen und vom preußischen Ministerium des Innern empfohlen war, entstanden deren in verschiedenen großen Städten; jedoch errichtete man (so namentlich in Berlin) neben den Knabenhorten auch Mädchenhorte. In diesen Anstalten wird den Kindern neben gesundem Aufenthalt und einfacher, kräftiger Kost angemessene Beschäftigung (Stuhlflechten, Flickschneidern, Gartenarbeit, Buchbinden etc.) und Unterhaltung (Lektüre, Spiel, Spaziergang) gewährt. Auch die Deutsche Gesellschaft zur Verbreitung von Volksbildung hat sich der Sache angenommen und die K. zu weitester Verbreitung dringend empfohlen.

Kinder Israel, s. v. w. Hebräer, s. Juden.

Kinderkrankheiten, vorzugsweise die sogen. akuten Exantheme, wie Masern, Scharlach, Wasserpocken, auch Keuchhusten, die meist Kinder und nur ausnahmsweise Erwachsene befallen, welche sie in ihrer Kindheit nicht durchgemacht haben. Es gibt jedoch noch eine Reihe von Krankheiten, welche teils nur im Kindheitsalter vorkommen, wie die Rhachitis oder die englische Krankheit, teils auch solche, welche vorzugsweise bei dem Kind beobachtet werden, wie z. B. die tuberkulöse Hirnhautentzündung, der Krupp, die Skrofulose; auch gewisse chronische Hautkrankheiten, z. B. der Milchgrind (Ekzem), sind hierher zu zählen. Man stößt vielfach auf die Ansicht, jedes Kind müsse notwendigerweise die sogen. K. durchgemacht haben. Dies ist indessen durchaus unrichtig. Die meisten Kinder allerdings machen gewisse Krankheiten, wie Masern, Wasserpocken etc., durch, weil die Gelegenheit zur Ansteckung so leicht gegeben wird und fast alle Kinder gleichmäßig dafür disponiert sind. Bietet sich aber zufällig keine Gelegenheit zur Ansteckung, so bleibt der Mensch für immer frei von diesen Krankheiten, oder er erkrankt erst später daran, wenn er zufällig angesteckt wird und inzwischen die Disposition für die betreffende Krankheit nicht getilgt worden ist. Die K. bilden heute einen Spezialzweig der Medizin; es gibt eine besondere Lehre von den K. (Pädiatrik) und Spezialärzte für K. (Pädiater), welche seit 1879 jährlich zu einem Kongreß für Kinderheilkunde zusammentreten. Vgl. Gerhardt, Lehrbuch der K. (4. Aufl., Tübing. 1880); Derselbe, Handbuch der K. (mit Hennig, Vierordt u. a., das. 1877-83, 6 Bde.); West, Pathologie und Therapie der K. (deutsch von Henoch, 5. Aufl., Berl. 1872); Bouchut, Handbuch der K. (deutsch von Bischoff, 2. Aufl., Würzb. 1860); Vogel, Lehrbuch der K. (8. Aufl., Stuttg. 1880); Steffen, Klinik der K. (Berl. 1865); Baginsky, Lehrbuch der K. (2. Aufl., Braunschw. 1887).

Kinderlieder, Lieder, die zum Lernen und Sagen oder Singen für kleinere Kinder gedichtet sind. Dieser Art der lyrischen Dichtung ist vom pädagogischen Gesichtspunkt aus besondere Wichtigkeit beizumessen, indem sie nicht nur die Herzen der Kinder erfreut, sondern auch ihren Geist weckt und ihr Gefühls- und Vorstellungsleben bestimmend beeinflußt. Sie berührt sich nach der einen Seite mit den Wiegenliedern der Mütter und Ammen, nach der andern mit der Litteratur der Jugendschriften (s. d.). K. hat es gewiß von jeher gegeben, aber man hat in früherer Zeit ihrer nicht groß geachtet. Wenn daher auch in den neuerlich angestellten Sammlungen (die erste bedeutendere in Arnims und Brentanos Wunderhorn, 1806) manches Alte zusammengestellt ist, so kann doch für die ältere Zeit von einer Kinderpoesie als etwas Zusammenhängendem und Ganzem nicht geredet werden. Auch ist vieles unter diesem Alten nur entstellt auf unsre Zeit gekommen. Absichtlich für Kinder gedichtete Lieder begegnen uns zuerst auf religiösem Gebiet. Luther z. B. dichtete "ein fein Kinderlied, auf die Weihnacht zu singen" ("Vom Himmel hoch, da komm' ich her etc."); auch Graf Zinzendorf und J. K. ^[Johann Kaspar] Lavater verfaßten Lieder für den Mund der Kleinen. Sehr beliebt wurde dann diese Art der Dichtung im Zeitalter der Philanthropen; aber es war jenem rationalistischen Geschlecht nicht gegeben, den rechten kindlichen Ton zu treffen. Man legte den Kindern eine gereimte und dabei oberflächlich-eudämonistische Sittenlehre in den Mund, die Phantasie und Gemüt völlig unberührt ließ und darum der Jugend nicht zu eigen werden konnte. Viel besser trafen den kindlichen Ton ungesucht einige der Fabeldichter des Jahrhunderts, vor allen Gellert, und namentlich einige Dichter des Göttinger Kreises, wie Hölty, Voß und Matth. Claudius. Auch Goethe ("Wandelnde Glocke") und Schiller ("Schützenlied" im Tell) wußten sich zu den Kleinen herabzulassen, ohne von ihrer Würde zu verlieren. Im Beginn des 19. Jahrh. gaben vor allen F. A. Krummacher ("Wie ruhest du so stille", "Sink', o Körnlein, denn hinab" etc.) und E. M. Arndt ("Du lieber, frommer heil'ger Christ", "Die Sonne, sie macht den weiten Ritt" etc.) gute Muster für K. im ernstern Stil, und Fr. Rückert traf in seinen Märlein u. Reimen ("Vom Büblein, das überall mitgenommen hat sein wollen", "Vom Bäumlein, das spazieren ging", "Vom Bäumlein, das andre Blätter hat gewollt", "Du hast zwei Ohren und einen Mund" etc.) sehr glücklich den leichtern, anmutig scherzenden Ton, der sich bis zu "kindlichen Späßen" ("Männlein in der Gans", "Spielmann") wagen durfte. H. A. Hoffmann von Fallersleben schloß sich an die leichtern Töne Arndts sehr glücklich an, und gleichzeitig bildete Luise Hensel ("Müde bin ich, geh' zur Ruh'" etc.) das fromme Kinderlied in lieblicher Weise weiter. An kleinere Kinder wendet sich W. Hey mit seinen Kinderfabeln zu Speckters Bildern und den angehängten frommen Liedern. Für das zarte Alter, welches er vor Augen hatte, dürfen diese harmlosen Dichtungen klassisch genannt werden. Auch J. P. ^[Johann Peter] Hebel wußte in seinen alemannischen und einigen andern Dichtungen neben dem Volkston den kindlichen Ton sehr geschickt anzuschlagen. Wenn der gemütvolle A. Kopisch bisweilen nicht natürlich und einfach genug erscheint, so reihen sich dagegen R. Reinick und F. Güll den besten ihrer Vorgänger an. Neben ihnen sind noch besonders Graf F. Pocci, K. Fröhlich, G. H. Kletke, R. Löwenstein, J. ^[Johannes] Sturm, Chr. Dieffenbach und K. W. F. Enslin (geb. 1819) zu nennen. Haben auch in den Liedern dieser verdienten Kinderliederdichter Scherz und harmloser Mutwille schon ihren vollen Platz gefunden, so hat sich Heinrich