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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Kirchengeschichte

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Kirchengeschichte.

im allgemeinen zu bezeichnen durch den Übergang des Schwerpunkts der Entwickelung von der alten klassisch gebildeten Welt auf die neuen Völkerströme germanischer und slawischer Abstammung. Den Anfangspunkt der neuern K. bezeichnet die Reformation, an deren Stelle die neuern katholischen Kirchengeschichtschreiber den Humanismus oder die Entdeckung Amerikas setzen. Will man diese Zeitalter wieder in Perioden abteilen, so bietet sich ungesucht je eine Zweiteilung dar: für die alte Zeit durch den vollendeten Sieg des Christentums über das griechische Heidentum unter Konstantin d. Gr., für die mittlere durch den Höhepunkt der Papstgewalt unter Innocenz III. und für die neuere Zeit durch die reichsgesetzliche Anerkennung und Feststellung des Protestantismus im Westfälischen Frieden. Die Geschichte der Gründung des Christentums durch Christus und die Apostel pflegt man als Leben Jesu und Geschichte des apostolischen Zeitalters selbständig zu behandeln. Der geschichtlichen Darstellung aller dieser Zeitalter wird aber vorangehen müssen die Vorgeschichte der christlichen Kirche, welche die Alte Welt in ihren Beziehungen zum entstehenden Christentum zum Verständnis zu bringen hat (s. Kirche, geschichtliche Entwickelung).

Die Quellen der K. zerfallen in zwei Hauptgruppen: 1) Quellen, die selbst ein Stück Geschichte sind: a) Urkunden, z. B. die Dekretalen, Konstitutionen, Bullen, Breven der Päpste, die Hirtenbriefe der Bischöfe, die Akten (Kanones und Dogmata) der Kirchenversammlungen, die auf kirchliche Angelegenheiten bezüglichen Staatsgesetze (Kapitularien), Friedensschlüsse, Reichstagsakten, ferner die Briefe der geistlichen oder weltlichen Persönlichkeiten, welche die kirchliche Entwickelung beeinflußt haben, schließlich auf dem Gebiet des Dogmas, des Kultus und der kirchlichen Sitte die Symbole, die Schriften der Kirchenlehrer, Predigten, Liturgien, Agenden, Kirchenordnungen, Ordnungsregeln etc.; b) kirchliche Gebäude, Geräte, Gemälde, Skulpturen etc. 2) Quellen, welche Geschichte überliefern: a) Quellen, welche, indem sie praktische Ziele in der Kirche verfolgen, unabsichtlich Geschichte überliefern, wie z. B. Kalendarien, Martyrologien und Nekrologien; b) Quellen, die absichtlich Geschichte in irgend welcher Form überliefern wollen, z. B. Legenden, Annalen, Chroniken etc.

Der älteste Kirchengeschichtschreiber, dessen Werk wir haben, ist Eusebios von Cäsarea (s. d.), der um 325 schrieb, jedoch schon das für uns verloren gegangene Werk des Hegesippos (s. d.) benutzte. An ihn schließen sich als Fortsetzer in griechischer Sprache an: Sokrates (bis 439), Sozomenos (bis 423), Theodoretos (bis 428), Philostorgios (bis 425), Theodoros (bis 527) und Evagrios (bis 594). In der lateinischen Kirche verfaßte der gallische Presbyter Sulpicius Severus seine "Historia sacra" (bis 400); Rufinus (s. d.) übersetzte die K. des Eusebios und setzte sie bis 395 fort; Paulus Orosius (s. d.) verfaßte "Historiarum libri VIII", die auch die K. bis 416 enthalten; Cassiodorus (s. d.) faßte in seiner "Historia tripartita" die Werke des Sokrates, Sozomenos und Theodoretos in ein Ganzes zusammen; dieses Werk war für das Mittelalter die Hauptquelle kirchenhistorischer Kenntnis. Von Hieronymus (s. d.) wurde die bis 325 reichende Chronik des Eusebios von Cäsarea übersetzt und bis 378 fortgesetzt; an ihn schlossen sich wieder die Chroniken des Prosper von Aquitanien, Idacius und Marcellinus an. Im Mittelalter wurde vornehmlich der unerschöpfliche Vorrat von Heiligengeschichten und Legenden zusammengetragen; Beiträge zur K. von größerm Wert lieferten die Annalisten und Chronikenschreiber. In der abendländischen Kirche sind zu nennen: Gregor von Tours (s. d.), Beda Venerabilis (s. d.), Haymo, Bischof von Halberstadt, Anastasius von Rom (s. d.), Adam von Bremen (s. d.) und Ordericus Vitalis (gestorben als Mönch in der Normandie nach 1142). Vielfach fand die Papstgeschichte Behandlung von seiten der Kardinäle Petrus Pisanus, Pandulf und Boso (alle im 12. Jahrh.); die "Chronica summorum pontificum imperatorumque" des Martinus Polonus (gest. 1279) war, obwohl eine ganz oberflächliche Kompilation, das verbreitetste Geschichtsbuch des Mittelalters. Den gleichen Zweck, die Kaisergeschichte sowie die Papstgeschichte dem Gregorianischen Papalsystem gemäß darzustellen, verfolgt der Dominikaner Tolomeo von Lucca (Ptolemäus de Fiadonibus, gest. 1327) in seinen "24 Büchern der K." bis 1313. Alle die genannten Schriftsteller wie auch die Verfasser der zahllosen Annalenwerke haben keinen Begriff von Entwickelung und geschichtlichem Werden. Die Kirche ist ihnen etwas schlechthin Göttliches, von Anfang an Fertiges; nur ihre äußere Gestalt wechselt, und das Dogma wächst quantitativ. Mit der Reformation, welche zu ihrer Begründung und Rechtfertigung der Geschichte nicht weniger als der Schrift bedurfte, wurde der Geist eigentlicher kritischer Forschung und wissenschaftlicher Behandlung der K. geweckt und belebt. So brachte ein Verein lutherischer Theologen, an deren Spitze Matthias Flacius (s. d.) stand, ein großartiges kirchenhistorisches Werk in 13 Folianten zu stande, die sogen. Magdeburgischen Centurien (1559-74), welche allerdings das Unmögliche versuchten, das lutherische Dogma in die Zeit der Kirchenväter zu verpflanzen, im übrigen aber das kirchenhistorische Material vervollständigten und mit scharfer Kritik die Gewebe kurialistischer Geschichtsfälschung zerstörten. Ihnen stellte der katholische Theolog Cäsar Baronius (s. d.) in seinen Annalen ein durch Mitteilung unbekannter, aus dem Archiv des Vatikans ausgewählter Urkunden wichtiges Werk entgegen. Den Centurien ähnliche Parteischriften lieferten für die reformierte Kirche J. H. ^[Johann Heinrich] Hottinger (s. d.), Friedrich Spanheim (s. d.), Samuel und Jakob Basnage (s. d.). Wichtiger war, daß selbst der Franziskanermönch Pagi (s. d.) gegen Baronius in die Schranken trat. Jetzt bemächtigten sich die gelehrten Mönchsorden in Frankreich der K. und lieferten riesenhafte Materialiensammlungen, wie der Dominikaner Alexander Natalis (Par. 1677-86, 24 Bde.), an den sich Claude Fleury (s. d.), Bossuet (s. d.) und der Jansenist Tillemont (s. d.) anreihen. Von den neuern französischen Bearbeitungen der allgemeinen K. sind besonders zu erwähnen: Henrion, Histoire ecclésiastique depuis la création jusqu'au pontificat de Pie IX (hrsg. von Migne, Par. 1852 ff., 25 Bde.), und Rohrbacher, Histoire universelle de l'église catholique (das. 1842-48 u. öfter, 29 Bde.).

Nach dem Vorgang der Centurien und des Auszugs daraus von Lukas Osiander begnügte man sich lange in der protestantischen Kirche, die K. nur zu polemischen Zwecken auszubeuten oder sie in trockne Register von Begebenheiten, Zahlen und Namen zu verwandeln. Erst Georg Calixtus (s. d.) wies in einer Reihe von Abhandlungen auf das wissenschaftliche Interesse einer unbefangenen Erforschung der Thatsachen hin, und Gottfried Arnold (s. d.) drehte die bisherige dogmatische Tendenz der Geschichtsbehandlung um, indem er allenthalben der