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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Kirchenmusik

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Kirchenmusik.

ders die religiösen Gesänge mit oder ohne Instrumentalbegleitung. Die älteste K. war durchaus nur Gesangsmusik, doch scheint es, daß schon im frühen Mittelalter Blas- und Saiteninstrumente zur Begleitung im Einklang angewandt wurden; wenigstens berichtet ein Schriftsteller des 13. Jahrh. (Engelbert von Admont), daß alle Instrumente außer der Orgel aus der Kirche gewiesen wurden, weil sie an das weltliche Musizieren erinnerten. Im Lauf des 16. Jahrh. wurde die Verstärkung der Singstimmen durch Blasinstrumente oder auch Saiteninstrumente (Violen, Lauten) wieder allgemein, und mit der Einführung des Basso continuo um 1600 war der erste Schritt zu einer eigentlichen begleiteten. K. geschehen, welche sich nun schnell entwickelte (Carissimi, Schütz, J. S. Bach). Auch die reine Instrumentalmusik wurde zu Ende des 16. Jahrh. in die Kirche eingeführt und zwar wohl zuerst in Venedig durch die vorzüglichen Organisten der Markuskirche, Claudio Merulo und die beiden Gabrieli, deren "Intonationen" in ähnlicher Weise den Chorgesang vorbereiteten (wenn auch nur der Tonart nach, nicht thematisch) wie die von den deutschen Meistern zur höchsten Vollendung gebrachten Choralvorspiele. Die Geschichte der K. ist fast das ganze Mittelalter hindurch die Geschichte der Musik überhaupt, und wir können daher auf diese verweisen (s. Musik). Hier nur wenige Bemerkungen über die Entstehung der Formen der K. Der Ritualgesang der katholischen Kirche ist alt, teilweise wohl von den Juden übernommen, auch mögen heidnische Melodien mit christlichen Texten versehen worden sein; fest steht, daß in der byzantinischen Kirche sich zuerst der Antiphonengesang entwickelte und durch Ambrosius (gest. 397) nach Italien verpflanzt wurde, während der Gradualgesang in Italien aufkam. Der von Ambrosius besonders gepflegte Hymnengesang mag dagegen im heidnischen Kultus wurzeln. Papst Gregor d. Gr. (gest. 604) unterwarf den Ritualgesang einer Revision, bei welcher, wie es scheint, besonders viele Hymnen ausgeschieden wurden; in der Hauptsache war es jedenfalls auf Herstellung völliger Einheitlichkeit des Ritualgesanges der abendländischen Kirche abgesehen, welche auch durch Kanonisierung des sogen. Gregorianischen Antiphonars erzielt wurde (nur die Offizien für die speziellen Schutzheiligen unterschieden und unterscheiden das Ritual verschiedener Orte). Der Gregorianische Gesang hat sich bis heute erhalten, so gut dies bei einer so höchst mangelhaften Notierung wie der bis ins 12. Jahrh. fast einzig gebrauchten Neumenschrift möglich war. Wenigstens scheinen die Melodien ziemlich intakt geblieben zu sein; dagegen ist die alte Rhythmik desselben gänzlich verloren gegangen. Der Gesang zur Zeit des Ambrosius war nach dem Zeugnis des heil. Augustin (gest. 430) ein jubelndes Jauchzen, und auch andre Schriftsteller beschreiben denselben als bunt verziert und schwer auszuführen. Noch im 11. Jahrh. scheint er rhythmisch vielgestaltig gewesen zu sein und ist wohl erst zum langweiligen rhythmischen Einerlei erstarrt, als das Diskantieren und der Kontrapunkt aufkamen. Daß der Gregorianische Gesang immer nur einstimmig war, steht durchaus fest; ebenso zweifellos ist aber, daß im 10. Jahrh. (Hucbald) eine uns jetzt sonderbar erscheinende und doch so natürliche Art primitiver Mehrstimmigkeit aufkam, die darin bestand, daß die Gregorianische Choralmelodie in der höhern Quinte oder tiefern Quarte oder beides und obendrein noch in der höhern Oktave Note für Note von andern Stimmen begleitet wurde (Organum). Der Versuch O. Pauls, das Organum als ein antiphonisches Singen, eine Art Fugato, zu erklären, ist durchaus unhaltbar. Es ist uns ausdrücklich bestätigt (Hucbald), daß das Organum sich nur in langsamer Bewegung hielt; dadurch zerfällt die ganze Schrecklichkeit der Quintenparallelen in nichts: man erfreute sich am Wohlklang der einzelnen Quinte. Ohne dieses Durchgangsstadium wäre die moderne polyphone Musik undenkbar gewesen. Von der strengen Parallelbewegung wurde bald abgewichen. Schon Hucbald spricht von Haltetönen in der organisierenden Stimme, und bei Guido von Arezzo kommen schon Terzen vor. Im 12. Jahrh. verfiel man ins Gegenteil: es erfolgte die vollständige Emanzipation der kontrapunktierenden Stimme im sogen. Diskantus, der zwar ein fortwährendes Konsonieren in Oktaven und Quinten vorschrieb, aber hervorgebracht durch stete Gegenbewegung; und nun verfiel man auf die Idee, den Cantus firmus (die Choralmelodie) nicht Note für Note zu begleiten, sondern noch weitere Töne einzufügen, die im Durchgang zur folgenden Konsonanz genommen werden konnten. Zur zweiten Stimme gesellte sich bald eine dritte und vierte, und die Schriftsteller des 13. Jahrh. berichten bereits von bedeutenden Kontrapunktisten (Organistae), welche vortreffliche drei- und vierstimmige "Conductus", Motetten etc. geschrieben haben sollen (Magister Leoninus, Perotinus Magnus, Robert de Sabilone, Petrus [de Cruce], Johannes [de Garlandia] und die beiden Franco). Bedeutende Theoretiker, deren Werke zum Teil auf uns gekommen sind (Franco von Köln, Philipp von Vitry, Johannes de Muris), entwickeln allmählich die noch heute geltenden Satzregeln (Oktaven- und Quintenverbot), und so finden wir denn bereits um die Mitte des 15. Jahrh. bei den Niederländern den Kontrapunkt zu hoher Vollkommenheit entwickelt. Eine große Anzahl hochbedeutender Namen charakterisiert eine langdauernde Periode der Blüte einer heute mehr und mehr verschwindenden Kunst (Busnois, Dufay, Ockenheim, Hobrecht, Josquin des Prés, Pierre de la Rue, Brumel, Clemens non Papa, Mouton, Fevin, Pipelare, de Orto, Willaert, de Rore, Goudimel, Orlando Lasso; dazu die Deutschen: Paul Hofhaimer, Heinrich Isaak, Ludwig Senfl, Hans Leo, Haßler, Gallus, der Spanier Morales etc.). Die Formen, in denen diese Meister ihre Werke schufen, sind hauptsächlich die der Messe, Motette, des Magnifikat, stets a capella, mit künstlichem Stimmgeflecht und strengsten Nachahmungen kompliziertester Art, die schließlich in Spielerei mit Schwierigkeiten ausarteten. Diese überkünstelte Musik stach grell ab gegen die schlichte Einfachheit des die Form des volkstümlichen (vierstimmigen) Liedes nachahmenden protestantischen Chorals, und wohl aus diesem Grund beschloß das Tridentiner Konzil die Verbannung der mehrstimmigen Musik aus der Kirche, wenn es nicht gelänge, einen schlichtern, angemessenern Stil für die kirchlichen Gesänge zu schaffen. So wurde durch äußere Anregung der großartig einfache Palestrinastil geschaffen, dessen Vertreter außer Palestrina (gest. 1594) besonders die Nanini, Vittoria und die beiden Anerio sind. Mit der Palestrina-Epoche verschwindet die kurze Blüte kirchlicher Musik in Italien, und dieses verfällt in musikalischer Beziehung fast gänzlich der Oper, während in Deutschland sich die protestantische K. zu hoher und höchster Blüte entwickelt. Nur sofern die aus dem soeben (um 1600) aufkommenden musikalischen Drama und Oratorium mittelbar hervorgegangenen Formen des begleiteten Kirchengesanges (Kirchenkonzert, Kantate) von den in Italien gebildeten Deutschen (Heinrich Schütz) in ihr Vater-^[folgende Seite]