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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Klimatische Kurorte

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Klimatische Kurorte.

regend auf Nerven und Stoffwechsel wirken, aber auch etwas kräftigere Konstitution der Kranken voraussetzen. Zu diesen zählen Axenstein am Vierwaldstätter See (750 m ü. M. und 240 m über dem See), nahe dem etwas tiefer gelegenen Brunnen, Badersee im bayrischen Hochgebirge, Beckenried (437 m) am Vierwaldstätter See, Thun und Brienz, Interlaken im Berner Oberland (ca. 600 m ü. M.), Sitten im Kanton Wallis (506 m), Sonnenberg aus Selisberg (845 m), Thusis (746 m) an der Via mala zwischen Chur und dem Engadin, Walzenhausen, Weggis, Weißbad, Wolfsberg u. a. Alle diese schweizerischen Kurorte bilden den Übergang zum

4) eigentlichen Hochgebirge (900 m Höhe und darüber) mit seiner hohen Evaporationskraft der Luft, seiner dünnen, leicht durchsichtigen, meist trocknen Atmosphäre, welche schroffen Temperaturwechseln ausgesetzt ist und deshalb noch intensiver anregend auf alle vegetativen Körperfunktionen, Atmung, Verdauung, Blutzirkulation, einwirkt. Natürlich verlangt die Anwendung dieser Höhenkurorte kräftige, widerstandsfähige Konstitution. Sie wirkt günstig bei manchen Formen von Bleichsucht mit nervösen Störungen, von Verdauungsträgheit infolge von übertriebener Ernährung, bei nervösem und bronchialem Asthma, Skrofulose, chronischen Lungenentzündungen und beginnender Schwindsucht, jedoch, wie eingangs hervorgehoben worden, nur mit individueller Auswahl, da sich ja der Ruf der Höhenkurorte gegenüber der Schwindsucht nur in sehr beschränktem Maß bewährt hat. Als Winteraufenthalt ist besonders Davos im Oberengadin (1556 m) bekannt, dessen klare, sonnige, im Winter mehr gleichmäßige Luft einen Aufenthalt von ca. 6½ Stunden im Freien gestattet und manchen Kranken zuträglich ist; jedoch darf man bereits elende und schwerleidende Schwindsüchtige diesem Klima nicht aussetzen. Hier sind zu nennen: St. Beatenberg im Berner Oberland (1150 m), Bergün (1389 m) am Albulapaß, Churwalden (1212 m), welches sich als Übergangsstation vor und nach dem Aufenthalt in noch höher gelegenen Orten besonders empfiehlt, Engelberg in Unterwalden (1019 m) in sehr geschützter Lage, Fettan (1647 m), St. Moritz, Samaden, Pontresina, Sils Maria (sämtlich ca. 1800 m hoch) im Engadin, Tarasp (1270 m) ebenda.

5) Das Seeklima ist ausgezeichnet durch hohen Luftdruck bei reichlicher Feuchtigkeit, größere Gleichmäßigkeit der Temperatur als im Binnenland, stärkende, kräftige Winde, hohen Ozongehalt. Die klimatischen Kurorte an den Seeküsten wirken kräftig auf die Atmung und Wärmebildung, anregend auf die Herzthätigkeit und sehr erregend auf das Nervensystem; es ist also hier, wie bei den Höhenkurorten, eine widerstandsfähige Konstitution notwendig, da schwächliche und reizbare Personen vom Seeklima überwältigt werden. Für Deutschland kommen wesentlich die Bäder am Ostsee- und Nordseestrand in Frage, von denen die erstern die mildern, die letztern die stärkern sind, sowohl was die Kraft der Wellen als den Salzgehalt des Wassers, die Stärke der Luftbewegung und die Feuchtigkeit der Luft anbelangt. An der Ostsee sind außer zahlreichen einfachen und billigen Stranddörfern zu nennen: Zoppot bei Danzig, Kolberg, Divenow, Misdroy, Heringsdorf, Swinemünde, Zinnowitz, Saßnitz auf Rügen, Doberan, Klampenborg und Marienlyst in Dänemark. An der Nordsee liegen Wyk auf Föhr in Schleswig, Sylt, Helgoland, Norderney, welches auch als Winterstation benutzt wird, Borkum, Ostende und Scheveningen in Holland. Während alle bisher aufgezählten klimatischen Kurorte ihre Saison vom Juni bis Mitte oder Ende September haben, mit Ausnahme einiger Höhen- und Seekurorte, gibt es

6) klimatische Winterstationen, welche entweder im Binnenland an geschützter Stelle gelegene Plätze mit gleichmäßigem, nicht zu kaltem Klima, frühem, mildem Frühling sind, wie Kinderhospiz in Salzuflen (Lippe), Baden-Baden, Wiesbaden, Soden, oder südlicher liegen und schwächern Kranken über den rauhen Winter möglichst vollkommen hinweghelfen sollen, wie die klimatischen Kurorte am Südabhang der Alpen: Locarno, Lugano, Pallanza, Pegli bei Genua, Ajaccio auf Corsica, Venedig, Bordighera, San Remo, in trockner, warmer Luft, Cannes, Mentone, Nervi, Nizza an der Riviera di Ponente, Meran in Südtirol, Madeira, Kairo und andre Orte in Oberägypten. Alle diese Winterkurorte sind für schwache Rekonvaleszenten, für Lungenkranke und leicht erregbare nervöse Patienten geeignet, sofern diesen die Möglichkeit geboten wird, während des ganzen Winters fast täglich die freie Luft zu genießen und im allgemeinen unter klimatischen Einflüssen zu leben, die nicht hohe oder doch nicht allzu hohe Anforderungen an die vitalen Kräfte des Organismus stellen. Speziell für Lungenkranke hat man an mehreren klimatisch begünstigten Orten Einrichtungen getroffen, welche die Ausnutzung des Winters zu erfolgreicher ärztlicher Behandlung gestatten, so namentlich in Falkenstein im Taunus, zu Görbersdorf in Schlesien und zu Reiboldsgrün in Sachsen. Wintergärten, nach Süden offene Wandelbahnen, drehbare Pavillons und vor allem der nahe Wald gestatten dem Patienten ausgiebigen Genuß der freien Luft. Görbersdorf und Falkenstein verzeichneten nur fünf Wintertage pro Jahr, an welchen die Kranken das Haus nicht verlassen dürfen. Auch die schlesischen Bäder, besonders Reinerz, sind der Ausführung ähnlicher Einrichtungen näher getreten.

In den klimatischen Kurorten sind in neuester Zeit mehrfach Einrichtungen getroffen worden, welche dieselben nach Örtels Methode als Terrainkurorte bei Kreislaufstörungen benutzbar machen (vgl. Fettsucht). Neben einer eigentümlichen Diät haben die Patienten vom Arzt genau vorgeschriebene kürzere oder längere Spaziergänge auf mehr oder weniger steigendem Terrain auszuführen. Es sind daher die Wege genau reguliert und nach Wegstunden eingeteilt, so daß z. B. alle zehn Minuten eine Marke am Weg angebracht ist. Bedingung für einen Terrainkurort ist die Lage in einem nicht zu breiten Gebirgsthal, welches, von Anhöhen und Bergen umgeben, die Kranken vor Wind und schroffen Temperaturwechseln schützt. Die Wege sind mit Ruhebänken versehen, auch ist für Schutz gegen plötzlich hereinbrechendes Unwetter gesorgt. Örtel unterscheidet ebene Wege, Wege von geringer und solche von starker Steigung und steile Bergpfade, von denen jede Abteilung wieder besondere Bedingungen in sich schließt und nur Nutzen gewährt, wenn alle Vorschriften betreffs der Ruhepausen etc. innegehalten werden. Von den bis jetzt eingerichteten Terrainkurorten empfehlen sich im Vorfrühling: Meran-Mais, Bozen-Gries, Arco, Abbazia; im Frühling: Baden-Baden, Ischl; im Sommer: Baden-Baden, Ischl, Semmering, Landeck; im Herbst und Winter: die Tiroler klimatischen Kurorte und Davos Platz in Graubünden.

Vgl. Schneider, Über Luftkuren und klimatische Kurorte (Münch. 1867); Schreiber, Über das We-^[folgende Seite]