Schnellsuche:

Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Kunst

304

Kunst (im ästhetischen Sinn).

Da das unbedingt Wertvolle als solches nur Zweck, niemals Mittel sein kann, so fällt die Darstellung des erstern, die absolute K., mit der freien K. zusammen. Da das absolut Wertvolle ein Dreifaches (das Wahre, das Gute, das Schöne) umfaßt, deren jedes vom andern völlig unabhängig ist, so gliedert sich die sinnliche Darstellung desselben in eine dreifache K., deren erste, symbolische K., die sinnliche Darstellung des Wahren, die zweite, moralische K., die sinnliche Darstellung des Guten, die dritte, schöne K., die sinnliche Darstellung des Schönen ist. Letztere ist im ästhetischen Sinn allein wahre K. Dieselbe ist von der niedern K. durch den absoluten Wert ihres Dargestellten, von der dienenden K. durch den Selbstzweck der Darstellung, von der symbolischen und moralischen K. durch das Objekt ihrer Darstellung, das Schöne, unterschieden. Wie die schöne K. im ästhetischen Sinn vorzugsweise K., so wird das Erzeugnis derselben im Unterschied von den Produkten der übrigen (niedern und höhern) Künste vorzugsweise Kunstwerk genannt, während im weitern Sinn jedes Produkt höherer (symbolischer und moralischer) K. (mythische Dichtung, Fabel, symbolisches Bau- oder Bildwerk) mit diesem Namen bezeichnet wird. Durch die Verbindung der niedern oder einer der beiden genannten höhern Künste mit der schönen K. entsteht die verschönernde K., bei welcher das Schöne Neben-, das Nützliche und Angenehme (Kunsthandwerk, Kunstindustrie, Kunst- und Luxusgewerbe) oder das Wahre und Gute (schöne Symbolik, didaktische K.) Hauptzweck ist.

Bei jeder K. ist die Idee (der Gedanke des sinnlich darzustellenden Nützlichen, Angenehmen, Wahren, Guten, Schönen) im Geiste des Darstellers von der Erscheinung derselben (der Verwirklichung jenes Gedankens im sinnlich wahrnehmbaren Stoff) zu unterscheiden. Jene kann ebensowohl erfunden wie einem (in Natur oder Geschichte) Gegebenen entlehnt, diese kann ebensowohl durch die niedern Sinne (Geruch, Geschmack) in den niedern Künsten (z. B. Kochkunst) wie durch die höhern (Gesicht, Gehör, Getast) in den höhern Künsten (z. B. Malerei, Musik, Plastik) wahrnehmbar sein. Auf jenem Umstand beruht der Unterschied zwischen erfindender und nachahmender K., auf diesem der zwischen Künsten des Auges (bildenden) und Künsten des Ohrs (redenden und tönenden Künsten). Der Aristotelische Satz, daß alle K. auf Nachahmung der Natur beruhe, erweist sich schon aus dem Grund als falsch, weil manche Künste (Musik, Architektur) kein Vorbild in der Natur haben. Wohl aber beruht jedes Kunstprodukt auf der Nachahmung seiner Idee im sinnlichen Stoff und ist desto vollkommener, je getreuer dieselbe (die des Nützlichen oder Angenehmen im niedern, die des Wahren im symbolischen, die des Guten im moralischen Kunstprodukt, die des Schönen im eigentlichen Kunstwerk) in letzterm ausgeprägt erscheint. Da das Schöne (s. Ästhetik) in der absolut wohlgefälligen Form besteht, so muß der sinnliche Stoff, um dasselbe vollkommen zur Erscheinung zu bringen, von dieser ganz durchdrungen, "der Stoff durch die Form vertilgt" werden, worin nach Schillers klassischem Worte "das Kunstgeheimnis des Meisters besteht".

Die Einteilung der K. im allgemeinen erfolgt nach den obigen Unterscheidungen in niedere und höhere, nützliche, schöne und verschönernde K.; die Einteilung der schönen K. erfolgt nach den Arten des Schönen, welches durch sie zur sinnlichen Darstellung gelangt. Da das Schöne selbst räumliches und zeitliches, ersteres architektonisch, malerisch und plastisch Schönes, dieses rhythmisch, musikalisch und poetisch Schönes umfaßt, so entstehen durch die sinnliche Darstellung jedes derselben ebenso viele einfache Künste: Architektur, Malerei, Plastik, Rhythmik, Musik, Poesie. Jene stellt durch räumliche Maße, die Malerei durch Licht und Farben, die Plastik durch körperliche Formen (insbesondere durch die des Menschen) dar; die Rhythmik bedient sich zeitlicher (als Metrik der Silben-) Maße, die Musik der Töne, die Poesie des Wortes zur sinnlichen Darstellung des Schönen. Wie in den räumlichen Künsten zu der ersten Dimension (den Maßverhältnissen der Länge) in der Architektur die zweite (die verschieden beleuchtete und gefärbte Fläche) in der Malerei und die dritte (die volle Körperlichkeit) in der Plastik hinzukommt, so gesellt sich zum wechselnden Zeitmaß in der Rhythmik der melodische und harmonische Ton in der Musik und vertieft sich der rhythmische Wohllaut des Wortes durch den Gedanken in der Poesie. Alle drei räumlichen Künste vereinigen sich in der Baukunst, während alle drei zeitlichen in der Gesangskunst zusammenwirken. Durch die Vereinigung räumlicher Künste (z. B. der Plastik) mit einer zeitlichen (der Rhythmik) wird die Verwandlung des unbeweglichen Materials der Darstellung (Stein, Holz etc.) in bewegliches (bewegungsfähiges, lebendes) Wesen bedingt, und die Tanzkunst tritt daher als lebendige Plastik auf, während in der Mimik und Schauspielkunst der poetische (insbesondere der dramatische) Gedanke in Gebärde und Deklamation zum zugleich sicht- und hörbaren Ausdruck kommt, in der theatralischen K. endlich mit Beihilfe der bildenden Künste ein Zusammenwirken aller räumlich-zeitlichen und zeitlich-räumlichen Künste zum zugleich bildnerisch wie musikalisch und poetisch darstellenden Schauspiel stattfindet. Wird das durch eine K. geschaffene Kunstwerk durch eine andre wiederholt, so heißt letztere die reproduzierende, erstere die produzierende, zum Unterschied von der Kopie, d. h. von der Wiederholung des Kunstwerks durch dieselbe K. Die zeichnenden (graphischen) Künste, wie die Handzeichnung, der Kupferstich, die Lithographie, der Holzschnitt etc., verhalten sich so den bildenden Künsten gegenüber reproduktiv, selbst dann, wenn in ihnen selbständig komponiert wird. Denn der zeichnende Künstler z. B., wenn er ein Gebäude entwirft oder eine Statue zeichnet oder ein Porträt skizziert, hat bei dem Entwurf selbst das Bauwerk etc. als künstlerisches Modell vor seinem innern Auge. Der Musiker reproduziert die in Noten gesetzte Musik; phantasiert er frei, so reproduziert er nur die in seinem Innern sich gestaltende Musik; der dramatische Darsteller reproduziert das von einem andern konzipierte und gestaltete dramatische Gedicht; improvisiert er, so ist er zugleich als Dichter produktiv und als Darsteller reproduktiv. Die reproduktive Thätigkeit ist aber gleichwohl eine künstlerische, nicht nur, weil die Darstellung in einem andern Gestaltungsmaterial stattfindet, sondern auch, weil die Auffassung des künstlerischen Objekts der Reproduktion eine ihm, dem reproduzierenden Künstler, eigentümliche ist. Indessen verhält er sich zu dem künstlerischen Objekt doch als zu einem bereits gestalteten Ideal, während der produzierende Künstler das Ideal aus seiner eignen künstlerischen Anschauung schöpft.

Die Technik spielt in der K. eine große Rolle. Zwischen künstlerischer Anschauung und künstlerischem Gestalten ist noch eine weite Kluft. In dem Verhältnis der künstlerischen Idee zu dem für die Darstellung derselben nötigen handwerklichen Material