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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Lamartine

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Lamartine.

er fortwährend mit der Linken und unterzeichnete 1830 die berühmte Adresse der 221. Er starb 1. Juni 1832. Sein Leichenbegängnis, an welchem gegen 200,000 Menschen teilnahmen, wurde von der demokratischen Opposition zu einer großartigen Demonstration gegen die Julimonarchie benutzt und gab den Anlaß zu blutigen Unruhen 5. und 6. Juni. Von Lamarques Schriften sind zu erwähnen: "Nécessité d'une armée permanente, etc." (Par. 1820); "De l'esprit militaire en France" (das. 1826) und seine "Souvenirs, mémoires et lettres" (Brüss. 1835, 3 Bde.).

Lamartine (spr. -tin), Alphonse Marie Louis Prat de, berühmter franz. Dichter, wurde 21. Okt. 1790 zu Mâcon als der Sohn eines armen Edelmanns geboren. Schon in seiner Jugend führte er eine Art Wanderleben, indem er seine erste Erziehung im Schloß Milly (Burgund), seine weitere in der Jesuitenschule zu Belley (an der savoyischen Grenze) erhielt. In letztgenannter Anstalt empfing er die Keime der romantisch-sentimentalen Religionsschwärmerei, die eine Beigabe seiner dichterischen Eigentümlichkeit bildet. Nach einem längern Aufenthalt in Italien trat er in die neuerrichtete königliche Garde, ein Dienst, dem die Hundert Tage (1814) ein Ende machten. Hierauf folgten Reisen und Zerstreuungen, deren Eindrücke er in den "Méditations poétiques" (1820; deutsch von G. Schwab, Stuttg. 1826) verarbeitete. Das Buch schlug einen ganz neuen, der herrschenden materialistischen Zeitrichtung völlig entgegengesetzten Ton an und machte ein Aufsehen wie seit Chateaubriands "Génie du christianisme" kein dichterisches Produkt. Hier war melodischer Fluß und Weichheit der Empfindung, hier eine prächtige Rhetorik, wenn auch mehr Glanz als Tiefe; hier noch, im Gegensatz zu seinen spätern Schöpfungen, reines, unverfälschtes Gefühl und der wahre Ausdruck der Stimmungen und Leidenschaften, die seine Jugend beherrschten. Insofern war der Erfolg ein verdienter. Zu letzterm gehörte auch die Ernennung des Dichters zum Gesandtschaftsattaché in Florenz (wo er eine junge reiche Engländerin heiratete), später zum Sekretär der Gesandtschaft in Neapel, endlich zum Geschäftsträger in Toscana. 1823 erschienen seine "Nouvelles méditations" mit den bemerkenswerten Gedichten: "La mort de Socrate" und "Dernier chant de Child-Harold"; eine beleidigende Äußerung über Italien, welche letzteres enthielt, zog ihm einen Zweikampf mit Oberst Pepe zu, in welchem er schwer verwundet wurde. Nach der Veröffentlichung des "Chant du sacre" (1825) und der "Harmonies poétiques et religieuses" (1830, 2 Bde.), in denen die Phrase und religiöse Begeisterung vorherrschen, wurde er in die Akademie gewählt (1829). Seit der Julirevolution näherte sich L. der Politik, und nachdem er 1832 eine Reise nach dem Orient unternommen hatte, auf der er mehr als fürstlichen Luxus entfaltete, wurde er 1834 zum Deputierten erwählt und veröffentlichte gleich darauf seine Reisebeschreibung "Voyage en Orient" (4 Bde.), deren wissenschaftlicher Wert gleich Null ist. Wohl die beste und wohlthuendste seiner sämtlichen Dichtungen ist "Jocelyn" (1836, 2 Bde.; deutsch von J. ^[Julie] Bernhard, Hamb. 1880), ein reizendes, angeblich aus dem Tagebuch eines Dorfpfarrers entnommenes Idyll. An Wert tief unter diesem Gedicht steht "La chute d'un ange" (1838, 2 Bde.), worin neben einer ziemlich vernachlässigten Form geschmacklose Phantastik sich breit macht, und der Versuch, den er in den "Recueillements poétiques" (1839) macht, die Muse in den Dienst der Politik zu zwingen, kann auch nur als wenig gelungen bezeichnet werden. Leider aber ging ihm für die Politik das Allernotwendigste, der Sinn für das Praktische und Reale, ab; im übrigen bot er in seiner politischen Farbe ein wunderliches Gemisch, welches im Saint-Simonismus ebenso gut und ebenso stark wie in religiöser Orthodoxie schillerte. Als "démocrate conservateur", wie er sich selbst bezeichnete, wollte er die konstitutionelle Monarchie befestigen und diese mit allen Freiheiten und Fortschritten der Neuzeit ausstatten. Seine 1847 in 8 Bänden erschienene "Histoire des Girondins" (neueste Ausg. 1884, 4 Bde.; deutsch, Leipz. 1847-48, 8 Bde.) bildet insofern die großartige Illustration zu diesem Glaubensbekenntnis, als diese Helden der Revolution mit dem Glorienschein der Poesie umgeben werden, freilich der geschichtlichen Wahrheit zum Trotz. Der Verfasser hat es sich hier, wie in sämtlichen folgenden Werken, mit der Aufgabe des Historikers sehr leicht gemacht. Ging ihm eigentliches Talent für dieses Fach ab, so hätte um so gebieterischer die Forderung des Fleißes und der Gewissenhaftigkeit an ihn herantreten sollen. Ein von Ludwig Philipp ihm angebotenes Ministerportefeuille schlug er aus, weil sein politischer Scharfblick doch so weit reichte, ihn die fernere Unmöglichkeit dieses Regiments voraussehen zu lassen. Den Glanzpunkt seines Lebens bildete die Februarrevolution von 1848; seine Rolle während derselben hat er in seinen "Trois mois au pouvoir" (1848) geschildert. Er nahm hervorragenden Anteil an der heftigen Opposition gegen Guizot und an der Bankettbewegung und ward 24. Febr. zum Mitglied der provisorischen Regierung und darauf zum Minister des Auswärtigen der neuen Republik ernannt. Der Ruhm, der eigentliche Schöpfer dieser Republik und eine Zeitlang der populärste Mann Frankreichs gewesen zu sein, darf ihm nicht vorenthalten werden. Er hat in seiner Stellung als Minister des Auswärtigen durch seine Popularität und seine Redegabe wahre Wunder, besonders nach der negativen Seite hin, gegen chauvinistische Kriegsgelüste, Ausschreitungen der Kommunisten etc., bewirkt und ist mit seiner Person und seinem Leben für seine Stellung und seine Pflicht eingestanden. Berühmt, und mit Recht, ist sein Manifest vom 6. März geworden; der Tag der Eröffnung der neuen Konstituante (4. Mai), in die er in zehn Departements gewählt war, gestaltete sich für ihn zu einem ruhmreichen Triumphtag. Jedoch lehnte er das von der Versammlung ihm angebotene Präsidium der neuen Regierung ab, und sein Einfluß schwand in demselben Maß, wie er gestiegen war; nach dem Staatsstreich vom 2. Dez. 1851 trat er, kaum beachtet, völlig von der Staatskarriere zurück. Seine schon 1849 erschienene "Histoire de la révolution de 1848" (2 Bde.) kann nicht als unparteiische Darstellung jener denkwürdigen Episode gelten, weil L. immer mehr an sich selbst als an die Objektivität der Ereignisse denkt. Er machte noch einige Versuche, seine politische Bedeutung wiederzugewinnen; aber die periodische Schrift "Le Conseiller du peuple", worin er zuerst in Paris, auch später auf seinem Schloß Monceaux mildem Volk zu sprechen versuchte, fristete ihr Dasein nur bis zum Ende des folgenden Jahrs, und kein besseres Schicksal hatte die nun folgende Zeitschrift "Le Civilisateur" (eine Galerie berühmter Männer und Frauen). Seine Memoiren (u. d. T.: "Rafaël, pages de la vingtième année", 1849) und ihre Fortsetzung ("Nouvelles confidences", 1851), eine offene Darlegung aller seiner Jugendverirrungen im Ton und Stil großer Männer, welche für den Menschen L. die vom Staatsmann L. verlornen Sympathien wiedergewinnen wollten,