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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Lehrling, Lehrlingswesen

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Lehrling, Lehrlingswesen.

vollendet ist und die Ausrüstung stattgefunden hat, werden jene Unterstützungen entlastet und können samt den übrigen Teilen des Lehrgerüstes entfernt werden.

Lehrling, Lehrlingswesen. Lehrlinge sind junge Leute, welche sich für einen bestimmten Beruf die zu demselben nötigen elementaren Kenntnisse und Fertigkeiten während einer Lehrzeit erwerben wollen und zu diesem Zweck mit einem Lehrherrn in ein Vertragsverhältnis (Lehrvertrag) treten. In dem Lehrvertrag verpflichtet sich der Lehrherr zu ordentlicher Ausbildung des Lehrlings, der Lehrling zu Arbeitsleistungen für den Lehrherrn. Im übrigen können Leistungen und Gegenleistungen des Lehrlings und Lehrherrn vertragsmäßig sehr verschieden bestimmt sein. Zu den Berufszweigen, welche noch heutzutage eine solche Ausbildung erfordern, gehören besonders der kaufmännische Beruf, der höhere landwirtschaftliche Beruf und der gewerbliche Beruf im engern Sinn. Eine besondere Regelung des Lehrlingswesens ist namentlich geboten für die gewerblichen Lehrlinge. Von dem guten Zustand des Lehrlingswesens, d. h. von der ordentlichen gewerblichen und moralischen Ausbildung der Lehrlinge, hängt hier nicht nur die Zukunft der Lehrlinge, sondern auch der Zustand des Gewerbewesens in einem Land ab. Die für diese Lehrlinge notwendige gewerbliche Ausbildung ist teils eine theoretische, teils eine praktisch-technische. Jene ist in gewerblichen Fachschulen, diese in der Werkstätte (Fabrik) zu geben. Von den gewerblichen Fachschulen kommen hier in Betracht: die gewerblichen Mittelschulen (Baugewerks-, Maschinenbau-, Werkmeister- etc. Schulen), die allgemeinen Fortbildungsschulen, Kunstgewerbeschulen und besondere Lehrlingsschulen für einzelne Gewerbe. Für diese Schulen und für einen ordentlichen Unterricht in denselben sowie für eine Teilnahme der Lehrlinge an dem Unterricht zu sorgen, ist eine wichtige Aufgabe der öffentlichen Gewalt (Staat, Gemeinde) und der gewerblichen Korporationen. Wichtiger aber als die theoretische Ausbildung ist die gute praktisch-technische Ausbildung der Lehrlinge. Soll sie herbeigeführt werden, so darf man sie, wie die Erfahrung vieler Länder, auch in Deutschland, in unserm Jahrhundert gezeigt hat, nicht lediglich dem freien Vertrag und der Willkür der Einzelnen überlassen, sondern es muß die Sorge für dieselbe ebenfalls zur Aufgabe der öffentlichen Gewalt und zu einer korporativen Angelegenheit der Gewerbtreibenden gemacht werden. Es bedarf hier zunächst obrigkeitlicher Maßregeln teils der Gesetzgebung, teils der Verwaltung.

Zu den wichtigsten, unentbehrlichen gesetzlichen Vorschriften gehören: 1) das Erfordernis der rechtlichen Unbescholtenheit des Lehrherrn; 2) die obligatorische schriftliche Abfassung und Registrierung der Lehrverträge sowie die Aufstellung von Normativbestimmungen, welche für den Fall, daß die schriftliche Abfassung der Lehrverträge in unzureichender Form stattgefunden hat, ergänzend in Kraft treten; 3) die Bestimmung der wesentlichen Erfordernisse des Lehrvertrags und die Regelung des Rechts der Beteiligten, denselben allenfalls vor Ablauf der vertragsmäßigen Zeit aufzuheben; 4) die Festsetzung von Strafen beim Lehrvertragsbruch gegen Thäter, Anstifter, Teilnehmer und Begünstiger, insbesondere auch gegen denjenigen, welcher einen Lehrling, wissend, daß er entlaufen ist, in Lehre oder Arbeit nimmt oder behält; 5) ausreichende Schutzbestimmungen gegen eine mißbräuchliche (die Gesundheit, Sittlichkeit, Ausbildung gefährdende) Beschäftigung der Lehrlinge; 6) eine gesetzliche Probezeit; 7) die Möglichkeit, den Fortbildungs- oder Fachunterricht für Lehrlinge obligatorisch zu machen; 8) die Verpflichtung zur Erteilung eines amtlich zu beglaubigenden Lehrbriefs (Zeugnisses über die Dauer der Lehrzeit, über Betragen, Kenntnisse und Fertigkeiten des Lehrlings); 9) die Anweisung von Staatsmitteln für Prämien bei Ausstellung von Lehrlingsarbeiten; 10) die zweckmäßige Regelung des Innungswesens (s. Innungen). Die Verwaltung aber muß sorgen für besondere obrigkeitliche Organe, welche überall, wo das Bedürfnis vorhanden ist, örtlich für die einzelnen Gewerbe die wesentlichen Bestimmungen der Lehrverträge erlassen, die Beschäftigung und Ausbildung der Lehrlinge überwachen, für die Durchführung der Lehrverträge sorgen und etwanige Streitigkeiten entscheiden. Die Innungen als solche sind hierfür nicht die ausreichenden Organe; dieselben müssen aus Arbeitgebern und Arbeitnehmern und einem von der Regierung ernannten Vorsitzenden zusammengesetzt sein. Indes wenn auch die Vertretung der Staatsgewalt in ihnen unentbehrlich ist, müssen diese Organe doch in ihrer Einrichtung und Wirksamkeit mehr den Charakter von Organen der Selbstverwaltung erhalten. Unter Umständen muß die Staatsgewalt auch für die Errichtung von Lehrwerkstätten (s. d.) sorgen. Aber alle diese obrigkeitlichen Maßregeln können nur dann ihren Endzweck erreichen, wenn sie unterstützt werden durch eine energische, gemeinnützige Thätigkeit der Gewerbtreibenden selbst, wenn insbesondere Innungen und Gewerbevereine bestehen und für eine gute Ausbildung der Lehrlinge mit sorgen. Sie haben vor allem darüber zu wachen, daß die Lehrherren ihre moralischen Pflichten gegen ihre Lehrlinge erfüllen und bestrebt sind, dieselben zu geschickten, tüchtigen Gesellen und zu braven, auf gewerbliche Ehre und Moral haltenden, von Gemeinsinn getragenen Gemeinde- und Staatsbürgern heranzubilden; sie müssen besondere Kommissionen zur Unterbringung von Lehrlingen bei geeigneten Lehrherren, zur Beaufsichtigung der von ihnen untergebrachten Lehrlinge und Arbeitsvermittelung für dieselben nach beendigter Lehrzeit etc. einsetzen, Lehrlingsprüfungen, Ausstellungen von Lehrlingsarbeiten mit Prämien veranstalten, Fachschulen für Lehrlinge errichten und leiten, unter Umständen Lehrwerkstätten gründen etc.

In keinem Staat entspricht die Fürsorge für das Lehrlingswesen den vorstehenden Anforderungen, nirgends ist daher auch der Zustand desselben ein befriedigender. In Deutschland und ebenso in Österreich ist man in neuerer Zeit bestrebt, eine Besserung herbeizuführen. In Deutschland ist eine (freilich noch nicht ausreichende) Verbesserung der Gesetzgebung durch die Gewerbeordnungsnovelle vom 17. Juli 1878 (§ 126-133 der Gewerbeordnung) und durch das Innungsgesetz vom 18. Juli 1881 (ergänzt durch Gesetz vom 8. Dez. 1884) erfolgt. Durch das Gesetz von 1878 wurde insbesondere eine gesetzliche Probezeit von vier Wochen eingeführt (§ 128) und ein Schutz gegen den Bruch schriftlicher Lehrverträge gewährt (§ 130, 133). Über das Innungsgesetz s. Innungen. In Österreich ist eine viel weiter gehende Bestimmungen enthaltende Änderung der Gesetzgebung durch die Gesetze vom 15. März 1883 und vom 8. März 1885 bewirkt worden. In Frankreich hatte die Gesetzgebung von 1791 jede Regelung des Lehrlingswesens beseitigt. Aber schon ein Gesetz vom 22. Germinal XI schränkte die unbedingte Freiheit ein, insofern durch dasselbe bestimmt