Schnellsuche:

Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Lessing

723

Lessing (Gotthold Ephraim).

1774 ein Bruchstück: "Von Duldung der Deisten, Fragment eines Ungenannten", mitgeteilt, dem er 1777 und 1778 weitere "Fragmente" (die Offenbarung, die Geschichte der Auferstehung etc. betreffend) folgen ließ. Verfasser des Manuskripts war der verstorbene Arzt Sam. Hermann Reimarus in Hamburg, ein rationalistischer Deist nach dem Muster der englischen und französischen Deisten und Freidenker des 18. Jahrhunderts. L., der auch in andern den Drang zur Wahrheit am höchsten achtete, stimmte keineswegs mit den Anschauungen des Fragmentisten unbedingt überein. Als indes die unduldsamen Zionswächter der alten Orthodoxie begannen, die Beschuldigung gegen ihn zu schleudern, daß er "feindselige Angriffe gegen unsre allerheiligste Religion" verfaßt und unter seinen Schutz genommen, als namentlich der Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Göze gegen L. zu polemisieren begann, nahm dieser den hingeworfenen Fehdehandschuh auf und verfocht das Recht der Skepsis gegenüber dem geistlosen Buchstabenglauben, pfäffischer Verdammungssucht und hochmütigem Dünkel. Die Streitschriften Lessings: "Nötige Anwort ^[richtig: Antwort] auf eine sehr unnötige Frage", "Axiomata", "Anti-Göze" (sämtlich Braunschw. 1778), ausgezeichnet durch Schärfe der Logik, fortreißende Beredsamkeit und unvergleichlichen Reiz des Stils, überlebten den Kampf und seinen Anlaß. Am Ende wurde L., da er nicht zu besiegen war, durch Denunziationen bei seiner Regierung zum Schweigen gebracht und so genötigt, "seine alte Kanzel, das Theater" noch einmal zu besteigen, um ein letztes Wort zu gunsten der Toleranz und des Humanitätsgedankens zu sprechen. Auf Subskription ließ er die Dichtung "Nathan der Weise" (o. O. 1779) erscheinen, in der er zur Form der gebundenen Rede (fünffüßige Iamben) zurückkehrte. Dies Drama hat seine Stärke nicht in der straffen Schürzung und Lösung der Handlung, sondern neben der meisterhaften, psychologisch tiefen Charakteristik wirkt das Pathos edelster Gesinnung und reinster Überzeugung mit unwiderstehlicher Gewalt. Der "Nathan" war Lessings letzte große dichterische, ja seine letzte litterarische That. Im nächsten Jahr lieferte er noch die Schrift "Die Erziehung des Menschengeschlechts" (Berl. 1780) und vollendete "Ernst und Fall, Gespräche für Freimaurer" (Wolfenb. u. Götting. 1778-80), in beiden die Hauptideen wiederum darlegend, die ihn in den letzten Jahren erfüllt und bewegt hatten. Seine physische Kraft war seit dem Tod seiner Gattin gebrochen, flackerte bei einzelnen Ausflügen nach Hamburg und Braunschweig gleichsam nur wieder auf. Bei einem Besuch in Braunschweig erkrankte und starb er 15. Febr. 1781. Den ersten Nachruf, der seinem ganzen Verdienst gerecht wurde, widmete ihm Herder in Wielands "Merkur".

Lessings Persönlichkeit gehört zu denen, die lebendig und fruchtbar nachwirkend im Bewußtsein ihres Volkes bleiben. Sein Streben und Schaffen ist für die Entwickelung des geistigen Lebens der Deutschen, ja man darf sagen aller heutigen Kulturvölker, von unermeßlichem Einfluß gewesen. Fassen wir zunächst seine dichterische Bedeutung ins Auge, so zeigt sich diese, soweit sie wahrhaft großartiger Natur ist, wesentlich auf das dramatische Gebiet beschränkt. Lessings lyrische Gedichte entstammen noch der Periode, wo die Empfindung nach freiem Ausdruck rang und der einzelne seiner Empfindung erst schüchtern gewiß ward. Unter seinen sämtlichen kleinen Reimereien hat nur das Lied: "Gestern, Brüder, könnt ihr's glauben" sich im Gedächtnis der Nachkommen erhalten. Lehrhafter Scherz und lehrhafter Ernst sind neben der Präzision und Reinheit des Ausdrucks das Beste, was wir in seinen lyrischen Erzeugnissen antreffen. Höher stehen seine Fabeln und Schwänke, obwohl auch bei ihnen seine der Weitschweifigkeit und behaglichen Breite von damals bewußt entgegengesetzte Knappheit und epigrammatische Kürze das Hauptverdienst ist. Auch seine Epigramme überragen die bessern gleichzeitigen nur in einzelnen schärfern Pointen. Die poetische Produktion quoll bei L., wie bei all seinen Zeitgenossen, nicht unmittelbar aus dem Gefühl, sie hatte erst den Weg durch den reinigenden Destillierkolben kritischer Reflexion zurückzulegen. Er selbst hat bekanntlich in einer viel und unnötig erörterten Stelle der "Dramaturgie" sich das dichterische Genie abgesprochen. "Ich fühle", sagt er dort, "die lebendige Quelle nicht in mir, die durch eigne Kraft sich emporarbeitet, durch eigne Kraft in so reichen, so frischen, so reinen Strahlen aufschießt: ich muß alles durch Druckwerk und Röhren aus mir herauspressen." Mit Recht hat gegen dies Urteil Goethe bemerkt: "L. wollte den Titel eines Genies von sich ablehnen, aber seine dauernden Wirkungen zeugen wider ihn selber"; nicht nur die Dauer dieser Wirkungen, darf man hinzusetzen, sondern vorzüglich die Dauer der Ursache derselben, nämlich Lessings große Produktivität auf dramatischem Feld. Eine Fruchtbarkeit, wie er sie hier entwickelt hat, wäre unerklärlich, wenn man sie nicht aus dem angebornen lebendigen Schaffenstrieb, in dem das Genie wesentlich besteht, ableiten dürfte. Die Wahrheit in jener Selbstcharakteristik beschränkt sich auf die Thatsache, daß L. erst nach theoretischem Eindringen in das Wesen der Dichtkunst, besonders des Dramas, zu der Kunsthöhe emporstieg, auf der ihn seine Zeit sah, auf der wir ihn heute noch sehen. Den ersten Schritt zu dieser Höhe that er in seiner "Miß Sara Sampson". So dürftig das Grundmotiv dieser Dichtung uns jetzt erscheint, so groß ist die Differenz, welche sie von den gleichzeitigen Dramen andrer, ja auch von Lessings eignen frühern dramatischen Dichtungen unterscheidet. Die kühne Neuerung Lessings in jenem Trauerspiel war, daß er es, statt nach dem bisher allein gültigen Muster der Franzosen, nach dem der Engländer bildete, welche den Kampf mit dem französischen Klassizismus bereits siegreich begonnen hatten. Zugleich aber ging L. auch hier über seine englischen Muster hinaus, deren Mißgriffe in der Wahl des Stoffes vermeidend und sie an Wahrheit und Lebendigkeit der Charakterzeichnung weit überbietend. Das Studium Diderots und des Aristoteles, vor allem aber die Beschäftigung mit den "ewigen Urbildern aller Tragik", mit Sophokles und Shakespeare, erweiterten von nun an Lessings Einblick in die wahren Gesetze des Dramas und ließen ihn immer entschiedener sich von der Afterklassizität der Franzosen abwenden. Die gewonnene Erkenntnis machte ihn zum vernichtenden Gegner Gottscheds, als welcher er nirgends schärfer auftritt als im 17. Litteraturbrief. In dem Sophokleische Einwirkungen deutlich verratenden "Philotas" zeigte sich zunächst Lessings ästhetischer Fortschritt praktisch. Das Stück übt durch die edle Mannhaftigkeit der Gesinnung, die es atmet, durch seine herrliche Naturwahrheit, durch die tiefe Einfalt seiner Tragik einen wundervollen Zauber aus. Entscheidender aber noch treten die Vorzüge seiner Muse und die Fruchtbarkeit der Erkenntnisse, welche der Dichter auf theoretischem Wege gewonnen, hervor in "Minna von Barnhelm", diesem im schönsten Sinn eigenartig deutschen Lustspiel, das, dem unmittelbarsten Leben der Gegenwart entnommen,