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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Lessing

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Lessing (Gotthold Ephraim).

in bester Bedeutung volkstümlich, Kunstschönheit mit Naturwahrheit paarend, frisch und treu in der Charakterzeichnung, bis heute unerreicht in unsrer Litteratur dasteht (vgl. Niemeyer, Lessings Minna von Barnhelm, 2. Aufl., Dresd. 1877). Die theoretische Befreiung unsrer nationalen Poesie von den drückenden Fesseln ausländischer Herrschaft vollzog L. am gewaltigsten in der "Dramaturgie", durch welche das ästhetische Joch Frankreichs vollständig gebrochen, Shakespeare dagegen bei uns eingebürgert und auf Aristotelischer Grundlage die Gesetze der Dramatik unerschütterlich begründet wurden (vgl. Cosack, Materialien zu Lessings Hamburgischer Dramaturgie, Paderb. 1876; kommentierte Ausgabe der "Dramaturgie" von Schröder und Thiele, Halle 1876-78). In "Emilia Galotti" erscheint die Charakterzeichnung, die packende Lebenswahrheit, die epigrammatische Knappheit der Sprache auf gleicher Höhe wie in "Minna von Barnhelm", die Diktion ist sogar geistreicher und gedankenhaltiger als in irgend einer andern Dichtung Lessings; dagegen wird gegen die tragische Lösung der Verwickelung jederzeit ein gewisser Einwand der Logik und Empfindung übrigbleiben, was die Wahrheit der Goetheschen Worte nicht aufhebt, daß in diesem Drama eine ungeheure Kultur enthalten sei (vgl. Werner, Lessings Emilia Galotti, Berl. 1882). Im "Nathan" überwiegt die ethische Bedeutung die ästhetische; der Geist milder, weltüberwindender Humanität, der in diesem edlen. Gedicht waltet, macht es zu einem der teuersten Besitztümer unsrer Litteratur (vgl. Strauß, Lessings Nathan, 3. Aufl., Berl. 1877; K. Fischer, Lessings Nathan, 3. Aufl., Stuttg. 1881; Pabst, Vorlesungen über Lessings Nathan, Bern 1880; Neumann, Litteratur über Lessings Nathan, Dresd. 1868).

Lessings reformatorische Bedeutung beschränkt sich nicht auf das poetische Kunstgebiet, auch auf einem andern Felde der Ästhetik hat er Unsterbliches gewirkt. Winckelmann, der große Wegweiser zur Nachahmung der Alten in der bildenden Kunst, hatte den Unterschied zwischen dieser und den redenden Künsten nicht in seiner ganzen Schärfe erkannt. Das Musterwerk, in welchem dieser Unterschied unwiderleglich festgestellt und begründet wurde, ist Lessings "Laokoon". In diesem hat L., den Macaulay mit Recht als "den ersten Kritiker Europas" bezeichnet, die wesentlichen Bedingungen der im Raum und der in der Zeit wirkenden Künste mit unvergleichlicher wissenschaftlicher Methode dargelegt, und der Satz, daß der Dichter nicht malen solle, gehört seitdem, um mit Vischer zu reden, "zum ABC der Ästhetik" (vgl. Vonbank, Lessings Laokoon, Feldkirch 1856; Cosack, Lessings Laokoon, für die Gebildeten bearbeitet und erläutert, 3. Aufl., Berl. 1882; Blümner, Lessings Laokoon, herausgegeben und erläutert, 2. Aufl., das. 1880; H. Fischer, Lessings Laokoon und die Gesetze der bildenden Kunst, das. 1887). - Der reformatorischen Thätigkeit Lessings in der Litteratur steht die in der Theologie bedeutsam zur Seite. Schon die Wittenberger "Rettungen" zeigen L. bemüht, die Freiheit prüfender Forschung in Glaubenssachen als heiliges Recht der Menschheit zu vindizieren. Der weitere Entwickelungsgang Lessings mußte ihn von jenem Punkt aus notwendig zum Bruch mit der Offenbarung führen. Immer mehr lernte er den Wahn, daß die echte Religiosität ohne kirchliche Orthodoxie unmöglich sei, vom Standpunkt der Logik und der Humanität aus als thöricht und verderblich erkennen. Diese Erkenntnis trieb ihn in eine Weltanschauung, welche, man mag dagegen sagen, was man will, ihren Grundzügen nach eine spinozistische ist. Das Bekenntnis dieser Weltbetrachtung steht jedoch in Lessings theologischen Schriften mehr zwischen als in den Zeilen zu lesen. Die negative Seite jener ist bedeutender als die positive; was ihnen unvergänglichen Wert verleiht, ist nicht sowohl die Darlegung eines eignen philosophischen oder religiösen Dogmas als die vernichtende Abwehr aller den Menschengeist fesseln wollender Dogmatik.

L. steht als der mannhafteste Charakter der deutschen Litteraturgeschichte da; sein Leben ist ein fast ununterbrochener Kampf gewesen. Die gewaltige geistige Kraft, welche ihn zu diesem befähigte, zeigte sich auch in seiner leiblichen Erscheinung ausgeprägt. Von gedrungener, kräftiger Gestalt, mehr als mittelgroß, das Haupt auf kräftigem Hals frei emportragend, mit offenen, klaren, tief dunkelblauen Augen die Dinge ruhig betrachtend, stellte er das Bild einer edlen, männlich-schönen Persönlichkeit auch äußerlich dar. Eine ungemeine Freundlichkeit und ein vollkommen anspruchsloses Wesen zeichneten ihn trotz seiner so entschiedenen Eigenartigkeit aus. Ordnungsliebe, auch in Bezug auf Kleidung, war ihm in seltenem Maß eigen. Tiefe Abneigung gegen Unwahrhaftigkeit und Heuchelei, gegen alles leere Scheinwesen machte einen der hervorstechendsten Grundzüge seines Wesens aus. Nicht hoch genug wissen die Freunde seine Unterhaltungsgabe zu rühmen: sehr begreiflich, wenn man erwägt, mit welch wunderbarer Meisterschaft der Darstellung L. als Schriftsteller auch den trockensten Materien eine Anziehungskraft zu leihen verstand, die uns noch heute für Schriften und Bildwerke, welche im übrigen längst verschollen sind, das lebendigste Interesse abgewinnt. Der Stil keines Schriftstellers ist so anregend wie der Lessings. Wir vernehmen in seinem Vortrag, nach Vilmars treffender Charakteristik, "ein geistreiches, belebtes Gespräch, in welchem gleichsam ein Gedanke auf den andern wartet, einer den andern hervorlockt, einer von dem andern abgelöst, durch den andern berichtigt, gefördert, entwickelt und vollendet wird; Gedanke folgt auf Gedanke, Zug um Zug, im heitersten Spiel und dennoch mit unbegreiflicher Gewalt auf uns eindringend, uns mit fortreißend, beredend, überzeugend, überwältigend". - Unter den Bildnissen Lessings behaupten das angeblich von Tischbein gemalte, wahrscheinlich aus der Breslauer Zeit herrührende (jetzt in der Berliner Nationalgalerie befindlich), das sogen. Halberstädter, dem Maler May zugeschriebene Porträt und das von A. Graff 1791 in Berlin gemalte den obersten Rang. Statuarisch verherrlichen ihn das bekannte Meisterwerk Rietschels in Braunschweig (seit 1853) und die (sitzende) Statue von Schaper auf dem Gänsemarkt in Hamburg (seit 1880). In seiner Vaterstadt Kamenz wurde zu seinem Andenken 1826 das Lessing-Stift, ein Hospital für Bedürftige aller Konfessionen, gegründet.

[Ausgaben, Briefwechsel.] Lessings "Sämtliche Schriften" erschienen zuerst (hrsg. von K. G. Lessing) Berlin 1771-94 in 30 Bdn.; sodann (hrsg. von Schink, mit Biographie) das. 1825-26, 30 Bde.; später folgten die "Gesammelten Werke" (Leipz. 1841 u. öfter; zuletzt von Gödeke, Stuttg. 1873, in 10 Bdn.). Die erste philologisch korrekte Ausgabe der "Sämtlichen Schriften" war die meisterhafte von Lachmann (Berl. 1838-40, 13 Bde.), welche 1853-57 in zweiter, von v. Maltzahn revidierter und ergänzter Ausgabe erschien und 1886 in dritter, von Muncker besorgter Auflage zu erscheinen begonnen hat. Zum großen Teil sehr wertvoll ist die von Groß, Redlich,