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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Lokomotive

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Lokomotive (Dampfmaschine).

Das zum mehrstündigen Kesselbetrieb erforderliche Speisewasser und Brennmaterial ist im Tender (Schlepptender) aufgespeichert, einem hinten angehängten Wagen mit geräumigem Wasserkasten aus Kesselblech (Inhalt bis 8,5 cbm und darüber). Bei der meist üblichen, im Grundriß hufeisenförmigen Gestalt des Wasserkastens sind die Schenkel der L. zugekehrt und lassen zwischen sich den Raum für das Brennmaterial frei. Wo die Mitführung großer Wasser- und Brennstoffvorräte nicht unbedingt erforderlich ist, wie z. B. beim Rangieren auf Bahnhöfen oder beim Befahren kurzer Strecken, begnügt man sich unter Fortlassung des Tenders mit kleinern, direkt auf der L. aufgestellten Behältern. Die so ausgerüsteten Lokomotiven heißen Tenderlokomotiven.

Dampfmaschine.

Die Dampfmaschine der L. hat die Kraft des in dem Kessel erzeugten Dampfes auf die Räder zu übertragen. Aus der Tafel "Lokomotive" ist die allgemeine Anordnung der Maschine zu ersehen. Dieselbe ist zu bezeichnen als eine Zwillingsmaschine mit variabler, jedoch im Grad beschränkter Expansion und ohne Kondensation, welch letztere teils wegen des sehr beschränkten Raums, teils auch deswegen für Lokomotiven unzweckmäßig ist, weil die Geschwindigkeit des verbrauchten unkondensierten Dampfes zum Anfachen des Feuers gebraucht wird. In der Nähe der Rauchkammer ist auf jeder Seite der L. ein horizontaler Treibcylinder angebracht, welchem der Dampf durch je ein Zweigrohr des vom Dampfdom ausgehenden, in der Rauchkammer sich gabelförmig teilenden Dampfrohrs zugeführt wird. Der Dampf gelangt jedoch nicht direkt in die Cylinder, sondern passiert erst je einen Kasten (Schieberkasten), von welchem aus er durch Kanäle (Dampfkanäle) mittels eines diese bald öffnenden, bald schließenden Schiebers abwechselnd an beiden Cylinderenden eingelassen wird, wodurch die Dampfkolben hin und her bewegt werden. Der in den Cylindern wirksam gewesene Dampf wird durch dieselben Schieber nach dem bei der Kesselarmatur erwähnten Blasrohr hin entlassen.

Durch den Deckel der Cylinder gehen Kolbenstangen, die durch Bleuelstangen mit je einer Kurbel einer und derselben Radachse verbunden sind. Mit diesen Kurbeln zugleich, welche zur Vermeidung von Totpunktstellungen (d. h. solchen Stellungen, aus welchen eine einzelne Kurbel durch ihre Bleuelstange nicht herausbewegt werden kann) um 90° gegeneinander verstellt sind, werden durch die Kolbenbewegung die auf derselben Achse (Treibachse) befestigten Räder umgedreht, wodurch die L. auf den Eisenbahnschienen fortbewegt wird. Die Richtung dieser Bewegung (vorwärts oder rückwärts) ist abhängig von der Dampfzuleitung und diese wiederum von der Bewegung der Dampfschieber. Diese kann, entsprechend dem Vorwärts-, resp. Rückwärtsfahren der L., in zwei einander entgegengesetzten Reihenfolgen vor sich gehen. Zu diesem Behuf sind auf der Treibachse für jeden Cylinder zwei dicht nebeneinander liegende Exzentriks (s. d.) angebracht, welche gegeneinander um 180° versetzt sind, so daß sie gleichzeitig in den entgegengesetzten extremen Stellungen ankommen. Sie greifen mit ihren Exzenterstangen an beiden Enden eines schmiedeeisernen Bogens (Kulisse) an, welcher ein am Ende der Schieberstange befindliches Gleitstück, den sogen. Stein, umfaßt. Beide Kulissen sind an einem mit Gegengewichten versehenen Hebelmechanismus in der Weise aufgehängt, daß sie vom Lokomotivführer mit einem Hebel (Reversierhebel) gehoben und gesenkt und mit einem federnden Riegel in der jedesmaligen Lage festgehalten werden können. Je nachdem nun die Kulissen mehr oder weniger in gehobener oder gesenkter Lage hängen, werden die Steine und somit die Schieber entweder mehr von den oben angreifenden oder mehr von den unten angreifenden Exzentern ihre Bewegung erhalten und somit ein mehr oder weniger schnelles Vorwärts-, resp. Rückwärtslaufen der L. hervorrufen. Befinden sich aber die Steine in der Mitte der Kulissen, so werden die Bewegungen der Exzenter in der Weise ausgeglichen, daß die Steine und die damit zusammenhängenden Schieber in ihrer Mittellage stehen bleiben und kein Dampf in die Cylinder eintreten kann, mithin auch die L. zur Ruhe gelangt. Statt des Reversierhebels wendet man in neuerer Zeit häufig eine Stellschraube an, welche die Kulissen sicherer in ihrer Stellung erhält als die zuweilen ausspringende Klinke des erstern. Da der Dampfzutritt und -Austritt bei jedem Cylinder nur durch einen einzigen Schieber geregelt wird, so kann man den Dampf nur in geringem Grad expandieren lassen und muß ihn noch mit einer beträchtlichen Spannung entweichen lassen, wodurch ein guter Teil Arbeit, also auch Dampf und Brennmaterial, verloren geht. Die Erklärung dafür, daß das anderweitig gerade bezüglich des Dampfverbrauchs so vorzügliche bewährte und weitverbreitete System der Compoundreceiver-Maschinen (s. Dampfmaschine, S. 467) bisher noch keine allgemeinere Verwendung bei den Lokomotiven gefunden hat, ist in dem Umstand zu suchen, daß sich bei der Übertragung dieses Systems auf die L. Schwierigkeiten zeigen, welche namentlich in der Notwendigkeit großer Einfachheit der Konstruktion und Handhabung, großer Zugkraft beim Anfahren, sehr veränderlicher Kraftleistung während der Fahrt sowie in der allgemeinen Anordnung und den begrenzten Dimensionen der L. begründet sind. Bemerkenswerte Konstruktionen von Compoundlokomotiven sind diejenigen von Mallet und von v. Borries, welche beide im Prinzip übereinstimmen und nur konstruktive Abweichungen voneinander zeigen. Beide haben auf einer Seite des Kessels einen kleinern Hochdruckcylinder, auf der andern Seite einen größern Niederdruckcylinder und zwischen ihnen, in der Rauchkammer, ein Zwischenreservoir (Receiver). Der Dampf wirkt zuerst im Hochdruckcylinder unter geringer Expansion, darauf nach dem Passieren des Receivers zum zweitenmal in dem Niederdruckcylinder unter stärkerer Expansion und gelangt dann erst durch das Blasrohr und den Schornstein ins Freie. Um das Anfahren zu ermöglichen, ist eine Vorrichtung vorhanden, mittels welcher man den großen von dem kleinen Cylinder trennen, dagegen erstern mit dem Dampfkessel, letztern mit dem Blasrohr verbinden kann, so daß beide Cylinder wie bei den gewöhnlichen Lokomotiven unabhängig voneinander arbeiten. Hierbei würde der große Cylinder wegen seines größern Kolbens bezüglich seiner Leistung über den kleinen ein bedeutendes Übergewicht haben, wenn nicht durch ein eingeschaltetes Reduzierventil (s. Druckregulatoren) der Druck des in den großen Cylinder tretenden Dampfes entsprechend verkleinert würde. Die Resultate, welche mit den Compoundlokomotiven, namentlich auch vor einiger Zeit in Preußen mit den Borriesschen Lokomotiven, erzielt worden sind, berechtigen zu der Hoffnung, daß das Compoundsystem auch bei den Lokomotiven, wie schon bei den feststehenden und Schiffsdampfmaschinen, allgemeinere Verbreitung finden wird.