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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

1044

Korrespondenzblatt zum zehnten Band.

Wirksamkeit der öffentlichen Armenpflege nach der Zahl der Unterstützten und die Höhe des Aufwandes zur Anschauung bringen.

Nach den Aufnahme-Ergebnissen sind im Jahr 1885 im Deutschen Reich 1,592,386 Personen (oder 3,40 Proz. der Bevölkerung) durch die öffentliche Armenpflege unterstützt worden, nämlich 886,571 Selbstunterstützte (Familienvorstände und Einzelnstehende) und 705,815 Mitunterstützte (mit den Familienvorständen zusammenlebende Ehefrauen u. noch nicht 14 Jahre alte Kinder oder Kindeskinder derselben). Was die Ursachen der Hilfsbedürftigkeit anlangt, so verteilen sich die Unterstützten auf dieselben in folgender Weise:

^[Liste]

Tod des Ernährers nicht durch Unfall 273939 = 17,2%

Krankheit des Unterstützten oder in dessen Familie " " 444498 = 27,9%

Körperliche od. geistige Gebrechen " " 197092 = 12,4%

Eigne Verletzung durch Unfall 32495 = 2,1%

Verletzung des Ernährers " " 5144 = 0,3%

Tod des Ernährers " " 14913 = 0,9%

Altersschwäche 234952 = 14,8%

Große Kinderzahl 115146 = 7,2%

Arbeitslosigkeit 95468 = 6,0%

Trunk 32424 = 2,0%

Arbeitsscheu 22528 = 1,4%

Andre bestimmt angegebene Ursachen 122214 = 7,7%

Nicht angegebene Ursachen 1573 = 0,1%

Zusammen: 1592386 = 100 %

Die Ausgaben für die öffentliche Armenpflege erreichten im Jahr 1885 den Betrag von 92,452,517 Mk. oder von 1,97 Mk. auf den Kopf der Bevölkerung.

A. Laforest in Wien. Jules Grévy ist in der That im August 1807 geboren. Im "Vapereau" und in andern bekannten Nachschlagbüchern ist allerdings 1813 als Geburtsjahr angegeben, diese Angabe ist jedoch falsch. Solange Grévy der erste Beamte des französischen Staats war, hat man sich viel mit seiner Person und seiner Geschichte beschäftigt, jedenfalls weit mehr, als ihm angenehm sein könnte. Man hat nicht bloß amtliche Urkunden (Geburtszeugnis, Protokoll seiner Aufnahme in das Pariser Barreau etc.) beigebracht, welche feststellen, daß er 1807 geboren ist, man hat auch nachgewiesen, daß er gar nicht Jules, sondern Judith François heißt, jedoch eigenmächtig den Namen "Judith" gegen "Jules" vertauscht hat. Mit solchen Dingen nimmt man es in Frankreich weit leichter als in Deutschland, wo man mit standesamtlichen Angaben nicht spaßen darf.

J. M., Mitglied des Hoftheaters in Mannheim. Hermann Goedsche, als Romanschriftsteller unter dem Pseudonym Sir John Retcliffe bekannt, wurde 12. Febr. 1815 zu Trachenberg in Schlesien geboren, besuchte das Gymnasium in Breslau und widmete sich 1833 dem Postdienst, in welchem er seit 1838 in Berlin angestellt war. Seine Verwickelung in den bekannten Waldeckschen Prozeß veranlaßte ihn 1849, den Dienst zu quittieren und sich von nun ab ausschließlich litterarischer und journalistischer Thätigkeit zu widmen, zu welcher er von Jugend auf hingeneigt hatte. Im besondern widmete er der feudalen "Neuen Preußischen (Kreuz-) Zeitung" seine Feder; auch redigierte er mehrere Jahre den "Kalender für den preußischen Volksverein". 1874 siedelte er nach Warmbrunn über, wo er der Leitung des von ihm mitbegründeten Militärkurhauses vorstand. In Warmbrunn ist Goedsche 8. Nov. 1878 auch gestorben. Während er seine ersten novellistischen Arbeiten, welche im romantischen Sinn historische Gegenstände behandelten, unter dem Schriftstellernamen Armin herausgab, wählte er für seine größern Sensationsromane, in denen er seit 1856 eine außerordentliche Betriebsamkeit entwickelte, den oben genannten, etwas nach Reklame schmeckenden englischen Namen als Aushängeschild. Diese, welche in bändereicher Kette die weltgeschichtlichen Ereignisse seit dem Krimkrieg nicht ohne journalistisches Geschick und historische Kenntnisse in Romanform zur Darstellung zu bringen strebten, nehmen ihrem Wert nach eine zweifelhafte Stellung weit unter dem echten historischen Roman, jedoch auch über dem niedern Kolportageroman ein. Auf Kunstwert können sie keinen Anspruch machen und thun dies wohl auch kaum, dagegen ist dem Autor das Talent, seine Leser - freilich oft nicht durch die reinsten Mittel - in Spannung zu halten, nicht abzustreiten. Dieser Vorzug und das Sensationelle ihrer Gegenstände hat die "historisch-politischen Romane der Gegenwart": "Sebastopol", "Nena Sahib", "Villafranca", "Puebla", "Biarritz" etc., mit zu dem beliebtesten Lesefutter des gewöhnlichen, nicht Kunstgenuß, sondern möglichst wohlfeile Unterhaltung suchenden Publikums unsrer Leihbibliotheken gemacht. Im Konversations-Lexikon ist aber für Vertreter dieser Litteraturgattung kein Raum.

J. S. in München. Die beiden Anträge, welche im Reichstag eingebracht, und die beide auf die Wiedereinführung der Berufung in den landgerichtlichen Strafsachen gerichtet sind, decken sich nicht vollständig.

1) Der Antrag des klerikalen Abgeordneten Reichensperger will das Rechtsmittel der Berufung in gleicher Weise dem Staatsanwalt wie dem Beschuldigten geben, während der Antrag "Munckel" die Staatsanwaltschaft in dem Recht zur Berufung beschränkt wissen will. Die von der Staatsanwaltschaft zum Nachteil des Beschuldigten gegen ein Urteil der Strafkammer eingelegte Berufung soll nämlich nach Munckels Vorschlag nur durch Anführung neuer Thatsachen oder Beweismittel gerechtfertigt werden können, eine Beschränkung, die für das von dem Angeklagten eingewendete Rechtsmittel der Berufung nicht gelten soll.

2) Reichensperger will bei gleichzeitiger Einführung der Berufung gegen die Urteile der Strafkammer der Landgerichte die gegenwärtige Besetzung der letztern ändern. Jetzt müssen nach dem Gerichtsverfassungsgesetz die Strafkammern in der Hauptverhandlung mit fünf Richtern besetzt sein. Reichensperger will mit der Einführung der Berufung an eine zweite Instanz die Zahl der erstinstanzlichen Richter auf drei reduzieren, während Munckel die gegenwärtige Zahl von fünf Richtern beibehalten will.

3) Der hauptsächlichste Unterschied aber ist folgender: Munckel will die Berufung gegen das Urteil der Strafkammer an den mit fünf Richtern besetzten Strafsenat des Oberlandesgerichts gehen lassen. Reichensperger läßt dagegen die Berufung nicht an ein höheres Gericht gehen. Er will bei den Landgerichten Strafberufungskammern eingerichtet haben. Diese sollen über die Berufung gegen die erstinstanzlichen Urteile der Strafkammern entscheiden; auch sollen sie nach Reichenspergers Vorschlag für die Schöffengerichte die Berufungsinstanz bilden. Die übrigen Differenzpunkte sind von untergeordneter Bedeutung.

Druck vom Bibliographischen Institut in Leipzig. Holzfreies Papier.