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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Lyon

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Lyon.

Holländer geschildert, ehrlich und thätig, sparsam und fleißig, aber ohne jene Leichtigkeit und Feinheit im Umgang, welche den Pariser kennzeichnet. Sein Handel und seine Industrie absorbieren ihn vollständig; Luxus und Vergnügen sind ihm nicht Bedürfnis. Auch reich geworden, verwendet er von seinem Erworbenen nur wenig für sein Vergnügen. Seine hervorragende Stellung unter den Städten Frankreichs und darüber hinaus dankt L. hauptsächlich seinem Handel und seiner hoch entwickelten Industrie. Unter den zahlreichen hier vertretenen Zweigen des Gewerbfleißes ist es die Fabrikation von Seidenstoffen, welche die höchste Zahl von Arbeitskräften beschäftigt und die größten Werte schafft. Unübertroffen ist die Lyoner Seidenindustrie in der Herstellung von schweren façonnierten Stoffen, welche aus reiner Seide auf Handstühlen gefertigt werden. In neuester Zeit wurde die Lyoner Industrie allerdings durch die Richtung der Mode sowie durch die deutsche und schweizerische Konkurrenz mehr und mehr auf die Herstellung billiger glatter Ware, insbesondere auf die Fabrikation halbseidener Stoffe mit Zuhilfenahme mechanischer Webstühle, gedrängt, ein Übergang, der nicht ohne eine heftige industrielle Krise erfolgt ist. Im ganzen zählt L. mehr als 320 Unternehmungen, welche Seidenstoffe aller Art, insbesondere schwarze, dann farbige Taffetas und Faille, Foulards, Samt, Atlas etc., erzeugen. Dabei sind 115,000 Webstühle thätig, wovon aber jetzt nur noch 35,000 in der Stadt selbst, dagegen 80,000 in der Umgebung und in den benachbarten Departements betrieben werden. Die Zahl der verwendeten Arbeitskräfte beläuft sich in L. auf etwa 40,000 Weber und Weberinnen und 11,000 andre Arbeiter. An roher Seide werden jährlich über 2,5 Mill. kg verarbeitet. Der Produktionswert übersteigt durchschnittlich die Summe von 400 Mill. Frank. Etwas weniger als die Hälfte der Produktion bleibt in Frankreich, das andre wird nach England, den Vereinigten Staaten von Amerika etc. exportiert. Mit der Seidenweberei stehen in Verbindung die Seidenfärberei (40 große Unternehmungen mit 3000 Arbeitern), die Druckerei und Appretur (800 Arbeiter). Wichtige andre Industriezweige sind: die chemische Industrie (47 Unternehmungen mit 2500 Arbeitern), welche hauptsächlich Farben, Firnisse, Stärke, dann Kerzen und Seife liefert; die metallurgische und Maschinenindustrie, welche 60 Maschinenbauanstalten, 50 Metallgießereien, 25 Kesselschmieden etc. umfaßt; die Fabrikation von Gold- und Juwelierwaren, Hüten, Leder, Wachstuch, Kautschuk, Knöpfen, chirurgischen, musikalischen und wissenschaftlichen Instrumenten, Papier und Papierwaren, Möbeln, Porzellan, Teigwaren, Schokolade. Im ganzen gibt es in L. 720 industrielle Etablissements, welche 80,000 Arbeiter beschäftigen. Der Handel von L. wird wesentlich unterstützt durch die günstige Lage der Stadt im Innern Frankreichs und doch nicht fern von den Grenzen, im Mittelpunkt wichtiger Wasser- und Landstraßen, namentlich aber von sieben Eisenbahnlinien (nach Paris, St.-Etienne, Marseille, Grenoble und Chambéry, Genf, Besançon, Dijon), welche in L. in sieben Bahnhöfen zusammenlaufen. Für den Lokalverkehr dienen ferner die auf die Höhen von La Croix Rousse und Fourvières führenden Drahtseilbahnen. Der Handel umfaßt als Hauptobjekte Rohseide, welche aus Frankreich, Italien, Spanien, der Levante, Indien, China und Japan bezogen wird, dann Seidenwaren, ferner Tuch und Leinwand, Stein- und Holzkohle, Käse, Kastanien, Baumwolle aus Amerika und Ägypten und Getränke (für Wein und Branntwein zählt man allein 280 Großhändler).

L. ist Sitz einer Akademie und hat an Unterrichts- u. Bildungsanstalten fünf Fakultäten (für Theologie, Rechte, Wissenschaften, Litteratur und Medizin), eine freie kath. Universität (mit Fakultäten für Theologie, Rechte, Wissenschaften und Litteratur), ein Lyceum, ein Lehrerinnenbildungsinstitut, eine höhere Töchterschule, ein großes und kleines Seminar, eine Veterinäranstalt, eine Taubstummen- und eine Kunstschule (École de St.-Pierre, mit 1200 Schülern, namentlich für die Entwickelung der Seidenindustrie von hoher Bedeutung), ein Gewerbeinstitut (nach dem Stifter Martin auch La Martinière genannt, mit über 500 Schülern), eine Zentralgewerbeschule, eine höhere Handels- und Webschule und zahlreiche Volksschulen; ferner 2 Bibliotheken: die Munizipalbibliothek (mit 125,000 Bänden und 2400 Handschriften) und die Bibliothek des Kunstpalastes (mit 75,000 Bänden und 40,000 Zeichnungen und Stichen), ein Kunst-, Antiken-, naturhistorisches und Industriemuseum, einen botanischen und einen zoologischen Garten, endlich zahlreiche gelehrte, Kunst- und industrielle Gesellschaften, eine berühmte Seidenkonditionierungsanstalt, großartige Markthallen und Spitäler. Die Stadt ist der Sitz eines Erzbischofs und eines protestantischen wie eines israelitischen Konsistoriums, des Generalkommandos des 14. Armeekorps, ferner des Präfekten, eines Appellhofs, Tribunals und Assisenhofs, eines Handelsgerichts, einer Handelskammer, Börse und einer Filiale der Bank von Frankreich sowie zahlreicher Konsulate fremder Staaten. Die Maires der sechs Arrondissements unterstehen dem Präfekten, welcher als maire général fungiert. Das städtische Budget beziffert sich in den Einnahmen und Ausgaben jährlich auf mehr als 16 Mill. Frank. Die Stadt bildet eine Festung ersten Ranges, sie hat eine bastionierte Umwallung, welche seit 1871 rekonstruiert worden ist, und eine Reihe neu angelegter vorgeschobener Werke (im ganzen 16) sowie ein großes Arsenal. Bemerkenswerte Punkte der Umgegend sind die Insel Barbe (s. d.) und der Mont Ceintre, eine der drei Spitzen des Mont d'Or (467 m hoch), mit prachtvoller Aussicht auf das Thal von L. und seine weitere Umgebung. L. ist Geburtsort zahlreicher berühmter Personen, darunter der römischen Kaiser Claudius und Caracalla, des Marschalls Suchet, des Staatsmanns Jules Favre, der drei Botaniker Jussieu, des Physikers Ampère, des Erfinders des nach ihm benannten Webstuhls, Jacquard, des Architekten Philibert Delorme, der beiden Bildhauer Coustou, der Maler Hennequin, Flandrin und Meissonier, des Kupferstechers Audran, der Dichterin Louise Labé und des Nationalökonomen J. B. ^[Jean Baptiste] Say.

Geschichte. L. hieß bei den Galliern Lugdunum (Lugudunum, Rabenhügel) und lag im Gebiet der Ambarrer im lugdunensischen Gallien. 43 v. Chr. führte L. Manutius Plancus eine römische Kolonie dahin, die Copia Claudia Augusta hieß, und Kaiser Augustus förderte sie dadurch, daß er sie zum Mittelpunkt eines großen Straßennetzes machte. Es wurde bald die bedeutendste Handels- und Fabrikstadt des innern Gallien. 59 n. Chr. brannte L. ab, wurde von Nero wiederhergestellt und dann namentlich von Trajan sehr verschönert, der auf der westlich von dem Rhône gelegenen Höhe das Forum Trajani oder Forum vetus (jetzt Fourvière) anlegte. Septimius Severus schlug bei L. 197 den Gegenkaiser Albinus und äscherte die Stadt zum zweitenmal ein. Unter den Einfällen der Barbaren in Gallien und den Stürmen der Völker-^[folgende Seite]