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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Mimikry

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Mimik - Mimikry.

sind, hat darauf die physiologischen und psychologischen Gesetze des Mienenspiels eingehend abzuleiten und die komplizierten Erscheinungen desselben auf einfache Prinzipien zurückzuführen gesucht ("Grundsätze der M. und Physiognomik", Braunschw. 1858; "M. und Physiognomik", 2. Aufl., Detmold 1886). Da alle Vorstellungen aus Sinnesempfindungen abstrahiert sind und in ihnen wurzeln, so werden lebhafte Vorstellungserregungen (Affekte) von reflektorischen, nicht zum klaren Bewußtsein kommenden, sinnlichen Mitempfindungen begleitet, die sich durch unwillkürliche Bewegungen der zu den Sinnesorganen in Beziehung stehenden Muskeln, also hauptsächlich der Gesichtsmuskeln, zu erkennen geben. Alle mimischen Bewegungen beziehen sich entweder auf imaginäre Sinnesempfindungen oder auf imaginäre Objekte. Die durch angenehme Vorstellungen veranlaßten Gesichtsmuskelbewegungen sind derart, als sollte durch sie die Aufnahme sympathischer (angenehmer) Sinneseindrücke erleichtert und unterstützt werden; die durch unangenehme Vorstellungen verursachten sind derart, als sollte dadurch die Aufnahme disharmonischer (unangenehmer) Sinneseindrücke abgewiesen oder erschwert werden. Beispielsweise wird durch Abwärtsziehen der Augenbrauen die Stirnhaut in senkrechte Falten gelegt (eine Bewegung, welche dazu dient, die Augen zu beschatten und das Schließen derselben vorzubereiten) nicht nur bei unangenehmen Lichtempfindungen, sondern auch bei unangenehmen Vorstellungen als Ausdruck des Zorns, der Verstimmung etc. (Fig. 1). Die Augen werden aufgerissen und infolgedessen die Augenbrauen nebst der horizontal gefalteten Stirnhaut in die Höhe gezogen, nicht allein, wenn die Aufmerksamkeit durch sichtbare Gegenstände, sondern auch, wenn sie durch Vorstellungen (imaginäre Objekte) lebhaft erregt ist: Ausdruck der Überraschung und Verwunderung oder auch, in abgeschwächter Form, angestrengter und anhaltender Aufmerksamkeit (Fig. 2). Um bei unangenehmen (bittern) Geschmacksempfindungen eine Berührung der schmeckenden Zungenoberfläche mit dem Gaumengewölbe zu vermeiden, wird der Mund aufgesperrt und zugleich, durch Aufwärtsziehen der Oberlippe, diese von der Unterlippe möglichst entfernt. Sehr unangenehme (bittere) Vorstellungen geben sich deshalb durch eine Spannung des Oberlippenhebers zu erkennen. Kombiniert mit horizontalen Stirnfalten zeigt dieser mimische Ausdruck, daß die Aufmerksamkeit des Menschen dauernd auf bittere Vorstellungen und Erinnerungen gerichtet ist (Fig. 3). Auf solche einfache Grundzüge, die sich in mannigfachster Weise zusammenstellen und gegenseitig modifizieren können (hauptsächlich durch den Blick, d. h. die Bewegungen der Augäpfel), lassen sich die meisten mimischen Ausdrucksweisen zurückführen, ähnlich wie die unendliche Fülle musikalischer Modulationen auf die wenigen einfachen Töne der Oktave. Die Resultate seiner mimischen Untersuchungen hat Piderit auch zur Begründung einer wissenschaftlichen Physiognomik (s. d.) benutzt. Damit war aber die Entstehung und Gleichmäßigkeit aller mimischen Bewegungen noch keineswegs erklärt. Denn wenn sich auch begreifen läßt, daß das "süße und saure Gesicht" seit früher Kindheit (vom Vergnügen des Säuglings her, wie E. Darwin sagte) gleichmäßig zum Ausdruck der betreffenden Geschmacksempfindungen wie der entsprechenden angenehmen und unangenehmen seelischen Empfindungen diente, so sind damit andre mimische Formen nicht zu erklären. Es ist das Verdienst Ch. Darwins, bewiesen zu haben, daß gewisse Grundlagen der M. (vermutlich aus ähnlichen Muskel-Associationen entwickelt) schon bei den höhern Tieren vorkommen, wie wir z. B. bei Hunden sehr wohl im stande sind, ein vergnügtes und mürrisches Gesicht zu unterscheiden, ein Kichern auch bei den Affen vorkommt etc. Viele Tiere drücken z. B. Wut und Haß durch Entblößen der Zähne, sei es in ganzer Reihe (Grinsen) oder durch bloßes Entblößen der Eckzähne infolge eines seitlichen Emporziehens der Oberlippe, aus. Da der Mensch seine Zähne doch nur noch höchst selten als Waffen im Kampf benutzt, so muß dieses "Zähneweisen" in der Wut, welches er mit dem Tier gemein hat, wohl aus Zuständen früherer Wildheit und Abstammung hergeleitet werden, und ebenso verhält es sich mit manchen andern mimischen Äußerungen, die ohne diese Annahme völlig sinnlos erscheinen. Während aber viele Äußerungen der M. auf so natürlichen Muskel-Associationen beruhen, daß sie sogar vererbt werden, scheinen andre, wie das verächtliche Hervorstrecken der Zunge, Kopfnicken und Kopfschütteln, nur konventionelle Äußerungen und Abkürzungen naheliegender Gebärden zu sein, z. B. das Kopfnicken eine Abkürzung der Verneigung, die ihrerseits eine Abkürzung des Niederwerfens ist. Der Nachahmungstrieb (s. d.) thut dann das Seinige, solche Gebärden festzuhalten, denn jede M. wirkt, wie vom Lachen bekannt, "ansteckend". Vgl. Darwin, Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren (4. Aufl., Stuttg. 1884); Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie (3. Aufl., Leipz. 1887, 2 Bde.).

^[Abb.: Fig. 1. Fig. 2. Fig. 3. Beispiele der Mimik.]

Mimikry (engl., Nachahmung, Nachäffung, hierzu die Tafel "Mimikry"), neuerer Kunstausdruck, der die Nachahmung bestimmter Tiere durch andre bezeichnet, die dadurch, daß sie den erstern nach Gestalt, Färbung, Zeichnung, Bewegungsweise und Aufenthalt bis zur Verwechselung gleichen, gewisse Vorteile im Daseinskampf erlangen. Manche Tiere, namentlich unter den Insekten, werden nachgeahmt,