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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Mythologie

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Mythologie (Ursprung der Mythenbildung).

bedeutenden Einfluß auf die M. als Wissenschaft gewann dann zu Anfang unsers Jahrhunderts jene Richtung der Philosophie der Geschichte, die von der Annahme eines Urvolkes im Orient (Indien, Ägypten, Hochasien etc.) ausgeht, das im Besitz einer Urreligion, d. h. einer reinen Gotteserkenntnis, gewesen sei. Von dort sei diese Urweisheit durch Priester unter den rohen Völkern der Erde und namentlich auch bei dem unkultivierten Volk der Griechen ausgebreitet worden, und zwar wegen der unzulänglichen Bildung und Erkenntniskraft der Völker auf allegorische Weise, in einer absichtlich erfundenen Bildersprache (d. h. in Form des Mythus), während die abstrakte Lehre der reinen Religion sich esoterisch in den Mysterien (s. d.) erhalten habe. Zu den Vertretern dieser Richtung gehören unter andern die Romantiker Fr. Schlegel ("Über die Sprache und Weisheit der Inder", 1808) und Görres ("Mythengeschichte der asiatischen Welt", 1810), auch Schelling. Andre Forscher suchten in der Fabelwelt der Alten die bildliche Überlieferung einer bestimmten positiven Wissenschaft, besonders der Astronomie oder der Chemie. Am meisten Förderung ist der M. (besonders der griechisch-römischen) von seiten der Philologie geworden. Der unter Herders Einfluß stehende Christian Gottlob Heyne (gest. 1812) war der erste, welcher die M. als einen Teil der Realphilologie behandelte und den Mythus als die Ausdrucksweise einer bestimmten Zeit betrachtete, der ebensosehr das Hineintragen moderner Ideen in die alten Mythen als die Herleitung derselben aus Einer Urquelle ablehnte. Er geht allerdings in seinen Ansichten über die frühsten Zustände Griechenlands noch ganz von der gewöhnlichen Überlieferung aus, daß die Pelasger höhlenbewohnende, tierisch-einfältige Menschen gewesen, zu denen durch Kadmos, Danaos, Kekrops der Same uralter Weisheit und Gotteserkenntnis gekommen sei. Diese lassen sich absichtlich herab zu dem Naturvolk, mit dem sie sich nicht anders verständigen können als durch Bildnisse und Gleichnisse, und so ist eine symbolische und mythische Sprache die künstliche Erfindung jener Männer aus dem Orient. Aus den auf diese Weise erfundenen Bildern und Typen gestalten sich dann durch Homer und Hesiod die im engern Sinn so genannten Mythen: die epischen Erzählungen von den Göttern und Heroen. Aber trotz dieser schiefen Ansicht von bewußten Schöpfern und Erfindern von Mythen hat Heyne zuerst durch Klassifikation der Schichten Licht und Ordnung in die M. gebracht, und dieselbe war als Wissenschaft durch ihn gewonnen. Aus der Schule Heynes ist Creuzer ("Symbolik und M. der alten Völker", Leipz. 1810-1812 u. öfter) hervorgegangen, auf den jedoch später die Ansichten von Görres und der geistesverwandten Richtungen großen Einfluß gewannen. Eine Reaktion gegen das Heyne-Creuzersche System ging von J. H. ^[Johann Heinrich] Voß aus, welcher in seinen "Mythologischen Briefen" (Stuttg. 1794, 2 Bde.) und in seiner "Antisymbolik" (das. 1824-26, 2 Tle.) die Forderungen der Kritik und der philologischen Methode verfocht, indessen nicht ohne Einseitigkeit, insofern er im höhern Alter des Schriftstellers (Berichterstatters) jeweilig auch eine größere Gewähr für echte, unverfälschte M. erblickte und konsequenterweise Homer an die Spitze der Entwickelung stellte, außerdem auch durch seinen Rationalismus am wahren Verständnis der Mythen als Gebilden naiver Volksanschauung verhindert war. Dieselben Licht- und Schattenseiten zeigt Lobecks berühmtes Werk "Aglaophamus, sive de theologiae mysticae Graecorum causis" (Königsb. 1829). Auch Gottfr. Hermann ("De antiquissima Graecorum mythologia" und "De historiae graecae primordiis", "Briefe über Homer und Hesiod", 1817) hielt daran fest, daß die Mythen eine von Priestern geschaffene bildliche Rede seien; das Volk und auch die Dichter hätten dieselbe wörtlich genommen. Um die wahre Bedeutung der Mythen zu erforschen, müsse auf dem Weg der Etymologie der Sinn der mythischen Namen erkundet werden. Auf die neuern Ansichten über M. hat Otfried Müller (besonders in seinen "Prolegomena zu einer wissenschaftlichen M.", Götting. 1825) besondern Einfluß gewonnen. Indem er das Prinzip der Autochthonie aller griechischen Entwickelung mit Konsequenz und Erfolg geltend machte, hat er den volkstümlichen Ursprung und Inhalt der M. zuerst systematisch durchgeführt und begründet und ist zu der Annahme einer mythenproduzierenden Zeit gekommen, in der das griechische Volk nach innerer Notwendigkeit seiner damaligen Bildungszustände in den Mythen die natürlichen Formen seines Denkens und Dichtens besaß. Ziemlich dieselbe Richtung finden wir allerdings schon vorher bei Buttmann ("Mythologus", Sammlung seiner ausgezeichneten, seit 1794 erschienenen mythologischen Aufsätze, Berl. 1828), nur daß dieser das lokale Gepräge, auf welches Müller in erster Linie ausgeht, weniger berücksichtigt, dafür aber bereits vergleichenden (orientalischen) Stoff herbeizieht. Auch Welcker vertritt einen verwandten Standpunkt, namentlich in seiner ausgezeichneten "Griechischen Götterlehre" (Götting. 1858-60, 3 Bde.), desgleichen Preller ("Griechische M.", Berl. 1854, 2 Bde.; 3. Aufl., besorgt von E. Plew, 1872-75).

Auch die Archäologie ist für das Studium der M. von Wichtigkeit geworden. Verdient machten sich in dieser Beziehung Zoëga und besonders Ed. Gerhard durch den Versuch, eine systematische Kunsterklärung zu begründen. Auch O. Müller gibt in seinem "Handbuch der Archäologie" eine vorzügliche Übersicht der Kunstmythologie. Durch Kunstsinn zeichnete sich auch Emil Braun ("Griechische Götterlehre", Gotha 1854) aus. Ein großartiges kunstmythologisches Werk ist die von Overbeck begonnene "Griechische Kunstmythologie" (Leipz. 1871-87, Bd. 1-3), neben welcher wir noch Conzes Buch "Heroen und Göttergestalten der griechischen Kunst" (Wien 1874-75) anführen.

Vom Standpunkt der neuern Philosophie und Theologie ward die M. der Alten betrachtet von Solger, Hegel, Chr. Herm. Weiße, Stuhr ("Religionssysteme der heidnischen Völker des Orients", Berl. 1836; "Religionssysteme der Hellenen", das. 1838). Mehr in theologischer Beziehung ist Baurs vom Schleiermacherschen Standpunkt bearbeitete "Symbolik und M., oder die Naturreligion" (Stuttg. 1824-25, 2 Tle.) wichtig. An einer unberechtigten Hineintragung des christlichen Standpunktes in die griechischen Mythen leiden bisweilen die Ansichten von Nägelsbachs "Homerischer Theologie" (Nürnb. 1840, 3. Aufl. 1884) und "Nachhomerischer Theologie" (das. 1857). Denselben Fehler begeht auch Lasaulx ("Studien des klassischen Altertums", Regensb. 1854), der von einer nahen Verwandtschaft der antiken Religionsideen mit denen der Offenbarung des Alten und Neuen Testaments ausgeht. Am folgenreichsten ist in neuester Zeit der Einfluß der vergleichenden M. geworden. Wie der Name sagt, beruht dieselbe auf Vergleichung der Mythen; diese Vergleichung aber erstreckt sich nicht auf die Mythen aller möglichen, sondern im wesentlichen nur auf die der zum indo-^[folgende Seite]