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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Nibelungenlied

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Nibelungenlied (Inhalt, Handschriften).

Nibelungenlied (Der Nibelunge Not), deutsches Heldengedicht, die Krone der mittelalterlichen volksmäßigen Poesie und die einzige epische Dichtung der Welt, welche an Bedeutung den Homerischen Epen einigermaßen vergleichbar ist. Der stoffliche Inhalt des in 39 Abenteuer abgeteilten Gedichts ist, knapp zusammengefaßt, folgender: Siegfried, ein Königssohn aus den Niederlanden, kommt mit glänzendem Gefolge nach Worms an den Hof des Burgundenkönigs Gunther in der Absicht, um dessen Schwester Kriemhild zu freien. Bei seinem Eintritt erzählt Hagen, Gunthers Dienstmann, die frühern Thaten Siegfrieds: daß er das Zwerggeschlecht der Nibelungen (s. d.) überwunden, den unermeßlichen Schatz derselben (den verhängnisvollen Nibelungenhort) samt der unsichtbar machenden Tarnkappe erworben und einen Lindwurm getötet habe, durch dessen Blut die Haut des Helden unverwundbar geworden sei. Nachdem Siegfried darauf König Gunther im Sachsenkrieg beigestanden und für denselben Brunhilde, die heldenhafte Königin von Isenland, erkämpft hat, erhält er endlich Kriemhild zur Gemahlin. Als Brunhilde nach Worms gekommen, erwacht noch einmal ihr unbändiger Sinn; sie wehrt sich in der Hochzeitsnacht mit dämonischer Kraft gegen Gunthers Minne und wird erst in der folgenden Nacht durch Siegfried mit Hilfe seiner Tarnkappe für Gunther überwunden. Siegfried nimmt ihr zugleich Gürtel und Ring ab und übergibt beides seiner Gemahlin Kriemhild. In einem Streit zwischen den beiden Fürstinnen über den Rang und die Würdigkeit ihrer Gatten zeigt Kriemhild der Gemahlin Gunthers jene Schmucksachen zum Beweis, daß sie von Siegfried überwunden worden sei. Die tödlich beleidigte Brunhilde sinnt Rache und beredet Hagen zum Mord Siegfrieds. Hagen läßt durch falsche Boten eine Kriegserklärung der Sachsen bringen, und Siegfried sagt seinen Beistand zu. Kriemhild, um ihren Gemahl besorgt, bittet Hagen, demselben im Kampfgetümmel beizustehen, und damit er ihn besser schützen könne, näht sie auf sein Gewand ein Kreuz auf die Stelle zwischen den Schultern, wo Siegfried beim Bad im Blute des Drachen durch ein darauf gefallenes Lindenblatt verwundbar geblieben war. Hagen läßt nun neue falsche Boten erscheinen, welche friedliche Nachrichten bringen, worauf eine große Jagd im Wasgenwald (oder Odenwald) veranstaltet wird. Am Schluß derselben schlägt Hagen einen Wettlauf nach der nahen Quelle vor. Siegfried siegt, wird aber, während er sich zum Trinken niederbeugt, von Hagen meuchlings an der verwundbaren Stelle mit dem Speer durchbohrt. Als Kriemhild beim Erscheinen Hagens während der Leichenfeierlichkeit aus der Wunde des toten Gatten aufs neue Blut fließen sieht, erkennt sie in ihm Siegfrieds Mörder. In tiefster Trauer lebt sie nun 13 Jahre in Worms. Ihre Brüder lassen, um die Schwester zu erfreuen, den Nibelungenhort nach Worms bringen; doch Hagen, fürchtend, sie möchte durch ihre Freigebigkeit zu viele für sich gewinnen, versenkt den Schatz heimlich in den Rhein. Endlich erscheint Markgraf Rüdiger von Bechelaren, um für König Etzel (Attila) von Ungarn, dessen Gattin Helche gestorben, Kriemhilds Hand zu erwerben, und letztere sagt nach längerm Bedenken zu in der Hoffnung, daß sie dann sich an Hagen rachen könne. Wiederum nach 13 Jahren ladet sie die Burgunden, ihre Brüder und Hagen nach Ungarn zu einem Fest an Etzels Hof, und sie folgen der Einladung. Kriemhild fragt Hagen, ob er ihr den Nibelungenhort mitgebracht, worauf er mit höhnender Rede antwortet. Da fordert Kriemhild ihre Mannen zur Rache auf, und in einem furchtbaren Kampfe fallen Gernot und Giselher nebst den burgundischen Helden, Rüdiger von Bechelaren und die Mannen Dietrichs von Bern, der bei Etzel weilt. Gunther und Hagen werden von Dietrich gefangen genommen und Kriemhild übergeben. Diese läßt Gunther das Haupt abschlagen und tötet mit eigner Hand Hagen, der das Geheimnis des Horts fest bewahrt, mit dem Balmung, Siegfrieds Schwert, und wird dafür von Hildebrand, Dietrichs Dienstmann, erschlagen. Die Trauer um die gefallenen Helden bildet den Inhalt der Klage (s. d., S. 803), eines Anhanges zum N.

Der in vorstehendem im dürftigsten Umriß dargelegte Inhalt des Nibelungenliedes ist in dem Gedicht mit wundervoller epischer Kraft, Anschaulichkeit und in hoher, oft freilich furchtbarer Schönheit verarbeitet. Der Geist, der in der Dichtung waltet, ist ein grunddeutscher; eine hochsittliche Idee, wenn auch eine im wesentlichen heidnisch-sittliche, beherrscht die Handlung, die in echt epischer Objektivität und großartiger Plastik sich entfaltet. Die Sagen, welche in dem N. vereinigt sind (denn daß hier verschiedene altdeutsche Sagenkreise ineinander verschmolzen sind, unterliegt längst keinem Zweifel), waren "Gemeingut des deutschen Volkes in weitester Bedeutung des Ausdrucks". Die älteste poetische Fassung der Siegfriedsage ist in den Liedern der ältern Edda, welche etwa ins 9. Jahrh. zurückreicht, aufbewahrt (s. Edda). Daß jedoch die Sage nicht ursprüngliches Eigentum des Nordens war, sondern von Deutschland dahin getragen worden, hat W. Grimm ("Die deutsche Heldensage", 2. Aufl., Götting. 1868) aus den mit hinübergenommenen Örtlichkeiten sehr wahrscheinlich gemacht. Die bis ins 12. Jahrh. in lebendigem Wachstum begriffene Sage besteht teils aus mythischen, teils aus historischen Elementen. Zu den erstern gehörten die Gestalten Siegfrieds und der Brunhilde; die historische Grundlage bildet die Zeit der Völkerwanderung, insbesondere die vernichtende Niederlage, welche der Burgundenkönig Gundikar 437 durch die Hunnen erlitt. Zur Geschichte der Nibelungensage vgl. besonders Lachmann, Zur Kritik der Sage von den Nibelungen (in seinen Anmerkungen zu der Ausgabe des "Nibelungenlieds"); Müllenhoff, Zur Geschichte der Nibelungensage (in der "Zeitschrift für deutsches Altertum", Bd. 10); Heinzel, Über die Nibelungensage ("Sitzungsberichte der Wiener Akademie", Bd. 109); W. Müller, Mythologie der deutschen Heldensage (Heilbr. 1887).

Das während der ersten Jahrhunderte nach seiner Abfassung vielgelesene N. besitzen wir in zahlreichen Handschriften, von denen drei Pergamenthandschriften des 13. Jahrh. sind und unter der Bezeichnung A (Hohenems-Münchener), B (St. Galler) und C (Hohenems-Laßbergsche, jetzt in Donaueschingen) als die wichtigsten betrachtet werden. Während des 16. und 17. Jahrh. war das N. verschollen; nur ein einziger deutscher Gelehrter, der Österreicher Wolfgang Lazius, hat es gekannt und daraus einige Strophen in seine "Geschichte der Völkerwanderung" aufgenommen. In den 50er Jahren des 18. Jahrh. entdeckte, angeregt durch Bodmer, der praktische Arzt Hermann Obereit auf dem Schloß Hohenems im vorarlbergischen Rheinthal eine Handschrift des Nibelungenlieds (vgl. Crueger, Der Entdecker der Nibelungen, Frankf. 1883), und Bodmer ließ aus derselben (der oben C genannten) den zweiten Teil unter dem Titel: "Kriemhildens Rache" (Zürich 1757) abdrucken. Eine vollständige Ausgabe, deren erster Teil auf der andern