Schnellsuche:

Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Physiokratisches System

40

Physiokratisches System.

Spanier (D. Saavedra Faxardo) bezeichnete 1661 die Früchte der Erde, W. Petty die Arbeit als Quelle des Wohlstandes. Erfolgreicher jedoch war die Opposition der Physiokraten, welche mit ihrem wissenschaftlichen Ernst und ihren humanitären, freisinnige Bestrebungen in den gebildetern, sich nach Reformen sehnenden Kreisen und selbst bei dem aufgeklärten Despotismus (Katharina II.) großen Beifall fanden. Die Grundzüge seines Systems teilte Quesnay zuerst in seinen ökonomischen Tafeln (1756) mit, der Name Physiokratie (vom griech. physis, Natur, und kratern, herrschen) wurde ihm später (1767) von Dupont de Nemours (s. Dupont 1) beigelegt, weil jenes System die Natur wieder in ihr Recht einsetzen und zur Herrschaft gelangen lassen wolle. Denn, so lautete Quesnays dritte Generalmaxime, "que le souverain et la nation ne perdent jamais de vue que la terre est l'unique source des richesses et que c'est l'agriculture qui les multiplie". Der Ackerbau bringe etwas Neues hervor, was noch nicht dagewesen sei, die Manufaktur bewirke nur Trennungen und Verbindungen bereits vorhandener Stoffe. Auf diese Anschauung gründet sich die Einteilung der Gesellschaft in drei Klassen: 1) die produktive Klasse, der Nährstand; derselbe begreift diejenigen, welche sich mit der Bodenwirtschaft befassen; 2) die Klasse der Grundeigentümer, welche der Gesamtheit dadurch nützten, daß sie den Boden verbesserten und als wohlhabend und "disponibel" dem Staat ihre Dienste leisteten; 3) die sterile Klasse, welche alle übrigen umfaßt. Produktiv wird die erste Klasse deswegen genannt, weil sie Überschüsse erzeuge. Die Bodenwirtschaft gewähre nach Deckung aller Aufwendungen mit Einschluß der Zinsen einen Reinertrag (produit net), der einen Zuwachs zum Volksvermögen bilde. Die empirisch beobachtete Thatsache, daß der Boden einen solchen Reinertrag abwerfe und infolgedessen auch ein Pachtschilling gezahlt werden könne, vermochten die Physiokraten nicht genügend zu erklären. Bald wird das produit net als reines Geschenk bezeichnet, welches der Boden seinem Bebauer darreiche, bald aber heißt es wieder, die Erde gebe dem Eigentümer nicht umsonst ein Einkommen, sondern um den Preis von Auslagen, welche in Form von Gebäuden, Anpflanzungen, Entsumpfungen etc. gemacht worden seien. Die letztere mit der Berechnung des Reinertrags in Widerspruch stehende Erklärung erblickt in den Zinsen der avances foncières (Grundkosten für Urbarmachung, Meliorierung) die Rechtsurkunde für den Bezug des Reinertrags. Darum soll auch "in der Regel kein Grund vorhanden sein, ein Gut für weniger oder mehr zu verkaufen als für die Erstattung der Grundauslagen und Verbesserungen" (Schmalz).

Die Manufakturen sollen zwar den Wert des von ihnen bearbeiteten Stoffes erhöhen, aber nur um so viel, als nötig sei, um zu ersetzen, was bei der Umformung verzehrt wurde. Kapitalisierungen seien ihnen hiernach bei normalen Verhältnissen nur durch Privation (abkargen, entbehren) möglich, eine Ansicht, welcher die Idee vom natürlichen Preis (Kostenpreis) zu Grunde liegt. Allerdings wird dabei betont, daß die Manufaktur teils dadurch nützlich sei, daß sie dem Landwirt Arbeiten abnehme, welche dieser sonst auf Kosten des Bodenbaues verrichten müsse, teils dadurch, daß sie die Produkte der Landwirtschaft dauerhaft mache (Konservierung, Umformung, Herstellung neuer Werte bei der Verzehrung landwirtschaftlicher Produkte). Da nur der Boden einen Überschuß abwirft, so wird auch er alle Steuern zu tragen haben, und zwar würde die Grundsteuer als einzige Steuer (impôt unique) gleichmäßig die richtigen Quellen treffen und am wenigsten beschwerlich sein. Für die Landwirtschaft wird Beseitigung der Lasten und Beschränkungen verlangt, welche damals sehr stark auf sie drückten; statt dessen soll die Regierung die produktiven Ausgaben und den Handel mit Bodenerzeugnissen begünstigen. Große Hoffnung setzten die Physiokraten auf den wohlthätigen Einfluß der freien Konkurrenz. Bei derselben werde das Einzelinteresse mit dem allgemeinen verbündet sein, denn das vernünftige Interesse der Einzelnen stimme stets genau mit dem allgemeinen überein. Deswegen werden Privilegien und Monopole bekämpft, weil sie die Rente des Bodens und damit auch die Mittel für landwirtschaftliche Verbesserungen verkürzten, und es wird volle Freiheit für Produktion und Handel verlangt. "Laisser faire, laisser passer" soll darum der Wahlspruch Gournays gewesen sein; man solle nur den wirtschaftlichen Verkehr sich selbst überlassen, und es werde der beste, allen Interessen genügende wirtschaftliche Zustand erreicht.

Unter den Anhängern der Physiokratie sind hervorzuheben der ältere Mirabeau ("Philosophie rurale", 2 Bde.), Dupont de Nemours, Mercier de la Rivière, welcher von Katharina II. nach Rußland berufen wurde, Gournay, der Begründer der gemäßigten Richtung der Handelsphysiokraten, welche sich mehr von der einseitigen Überschätzung der Landwirtschaft frei machten, und endlich Turgot, der nicht allein litterarisch ("Réflexions des richesses"), sondern auch praktisch für das physiokratische System wirkte. Als Generalkontrolleur der Finanzen beabsichtigte Turgot umfassende Reformen in echt physiokratischem Sinn durchzuführen, fand jedoch bei der feudalen privilegierten Gesellschaft einen unüberwindlichen Widerstand. Auch in Deutschland traten zahlreiche Jünger des physikalischen Systems auf: Iselin, Schlettwein, Springer, Schmalz, Krug u. a. Der Markgraf Karl Friedrich von Baden versuchte dasselbe in einem sehr beschränkten Bezirk seines Landes (in den Dörfern Dittlingen, Bahlingen, Themingen) durchzuführen; doch wurde der Versuch wieder aufgegeben, als die Gemeinden darum einkamen, es möge die Freiheit der Hantierungen wieder aufgehoben werden.

Der Grundirrtum der Physiokraten bestand in ihrer Anschauung über den Begriff der Produktivität. Es war ihnen unbekannt, daß die Landwirtschaft ebensogut wie die Industrie durch Arbeit und Benutzung der Naturkräfte lediglich Orts- und chemische oder physikalische Formveränderungen bewirkt, und daß die Höhe des landwirtschaftlichen Reinertrags nicht allein von der Fruchtbarkeit des Bodens, sondern auch von Art und Umfang der Bewirtschaftung, von der Lage des Bodens, dem Stande der Industrie, Entwickelung des Verkehrswesens, überhaupt auch von allgemeinen sozialen Ursachen abhängig ist. Ausdehnung der Gewerbthätigkeit u. des Handels, industrielle Verbesserungen, Erfindung landwirtschaftlicher Maschinen können die Bodenrente steigern, ohne daß dieselbe auf ein Naturgeschenk oder die Grundkosten zurückgeführt werden kann. Indem die Physiokraten die Gesetze der Preisbildung und der Verteilung des von der Gesamtthätigkeit erzeugten Einkommens verkannten, kamen sie zu der Forderung einer einseitigen Steuer und zur Bildung unzulässiger Klassenunterschiede. Nach ihrer Theorie müßten die Grundeigentümer als eine privilegierte Klasse erscheinen, welche ernten, wo sie nicht gesäet haben, während alle Leistungen der Industrie der Landwirtschaft zu gute geschrieben wer-^[folgende Seite]