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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Polterabend - Polyästhesie.

hat ein Areal von 49,895 qkm (906 QM.). Das Land bildet eine große, fruchtbare, bewässerte, aber waldlose Steppenebene mit herrlichen Getreidefluren und üppigen Wiesen. Alle Flüsse gehören zum Stromgebiet des Dnjepr, der die Westgrenze des Gouvernements bildet. Das Klima ist ganz kontinental, mit sehr heißen Sommern. Die Zahl der Einwohner belief sich 1885 auf 2,653,189 Seelen (meist Kleinrussen), 53 pro QKilometer, außer einer geringen Zahl Katholiken, Protestanten und Israeliten fast nur Griechisch-Katholische. Es wurden 1885 geboren 120,082 und starben 75,626; die Zahl der Eheschließungen war 14,487. Vom Areal entfallen auf Ackerland 66,5 Proz., auf Wiesen 22,7, auf Wald 5,8 und auf Unland 5,1 Proz. Hauptbeschäftigung der Bewohner bilden Ackerbau, der außerordentlich lohnend ist, Vieh-, besonders bedeutende Schafzucht und Fischerei (im Dnjepr und in der Worskla). Hauptprodukte sind: Getreide aller Art, Öl- und Hülsenfrüchte, Hopfen, Arbusen, Melonen, Tabak, Gartengewächse, Obst; Rindvieh, Pferde, Schafe, Fische, Blutegel und Spanische Fliegen. Heuschrecken richten oft Verheerungen an. Die Ernte lieferte 1884: 7 Mill. hl Roggen, 3,3 Mill. hl Weizen, 2,4 Mill. hl Hafer, 2,7 Mill. hl Gerste und 1½ Mill. hl Kartoffeln, Den Viehstand nahm man 1884 zu 644,569 Stück Rindvieh, 276,545 Pferden, 1,670,000 Schafen (darunter 300,000 feinwollige), 381,000 Schweinen und 4351 Ziegen an. Das Mineralreich liefert Kreide, Kalk, Thon, aber keine Metalle. Die Industrie ist unentwickelt; der Wert ihrer Produktion wird (1884) auf 14 1/3 Mill. Rubel beziffert, vorzugsweise Branntweinbrennerei (6 Mill. Rub.), Zuckerraffinerie (2 Mill. Rub.), Getreidemüllerei (7 Mill. Rub.), Tabaksindustrie (1½ Mill. Rub.). Der Handel vertreibt namentlich Getreide, Branntwein, Vieh und Häute und gewinnt durch das ausgedehnte russische Eisenbahnnetz sehr an Bedeutung. Die wichtigsten Handelsplätze sind: Poltawa, Krementschug und Romny. Die Zahl der Lehranstalten belief sich 1885 auf 701 mit 49,961 Schülern, nämlich 22 Mittelschulen, 676 Elementarschulen und 3 Fachschulen, darunter ein geistliches Seminar. - Während der polnischen Herrschaft gehörte P. zum Palatinat Tschernigow; 1802 wurde es zum eignen Gouvernement erhoben und zerfällt in 15 Kreise: Chorol, Gadjatsch, Kobeljaki, Konstantinograd, Krementschug, Lochwitza, Lubny, Mirgorod, Perejasslawl, Pirjatin, P., Priluki, Romny, Senkow, Solotonoscha.

Die gleichnamige Hauptstadt des Gouvernements, am rechten Ufer der Worskla, die hier die Poltawka aufnimmt, u. an der Eisenbahn Jelissawetgrad-Charkow, hat gerade und breite Straßen, eine Kathedrale, in welcher eine die Schlacht bei P. darstellende Kupferplatte aufbewahrt wird, 12 andre Kirchen, ein klassisches Gymnasium mit adliger Pension, ein Seminar, adliges Fräuleininstitut, Militärgymnasium, viele Fabriken, Branntweinbrennereien und Gerbereien, starken Obstbau (besonders Kirschen), Handel mit Rindvieh, Getreide, Wachs etc. und (1885) 42,210 Einw., bestehend aus Kleinrussen und Großrussen, Juden und Deutschen, welch letztere meist in einer Vorstadt, der sogen. deutschen Kolonie, wohnen und sich mit Tuch- und Deckenfabrikation beschäftigen. Am Eliastag hat die Stadt eine sehr bedeutende Messe mit einem Umsatz von 14-18 Mill. Silberrubel (Hauptartikel: Wolle, die in einem Quantum von 400-500,000 Pud zugeführt wird). P. ist Bischofsitz und der Geburtsort des Fürsten Paskewitsch und des Dichters Gneditsch. Nachdem Karl XII. von Schweden seit Anfang Mai 1709 P. belagert hatte, wurde er bei P. 27. Juni (8. Juli) d. J. von Peter d. Gr. entscheidend geschlagen. Zum Andenken an diesen für Rußland bedeutungsvollsten Sieg ist auf dem Alexanderplatz in P. eine 17 m hohe Säule errichtet worden.

Polterabend, der Abend vor der Hochzeit, der gewöhnlich mit Schmausereien, Scherzen und Tanz, wohl auch mit kleinen dramatischen Spielen begangen wird. Seinen Namen hat er von der Sitte, daß man Töpfe an der Thür der Braut geräuschvoll zerschlug. Diese Sitte ist sehr alt und rührt von dem Gepolter her, mit welchem man ursprünglich alle bösen Zank- und Plagegeister aus dem Haus zu vertreiben gedachte, damit am nächsten Morgen mit der Braut nur Friede und Ruhe einkehren möge.

Poltergeist, s. Kobold.

Poltino, der russ. halbe Rubel (s. d.).

Poltron (franz., spr. -óng), Memme, Hasenfuß; auch (mit Anlehnung an das deutsche "poltern") s. v. w. lärmender Wortheld, Prahler; Poltronnerie, Feigheit; Großthuerei.

Poly... (griech.), "viel", kommt in zahlreichen Zusammensetzungen vor.

Polyadelphit, s. Granat.

Polyadélphus (griech.), vielbrüderig, von Blüten, deren Staubfäden in mehr als zwei Bündel verwachsen sind; davon Polyadelphia, 18. Klasse des Linnéschen Systems, welche Gewächse mit solchen Blüten enthält.

Polyämie (griech.), s. v. w. Vollblütigkeit.

Polyandrie (griech., "Vielmännerei"), Verbindung einer Frau mit mehreren Männern. Sie ist am verbreitesten unter den Völkern auf Ceylon, in Indien, insbesondere bei den Toda, Kurgi, Nair und andern Stämmen im Nilgirigebirge, ferner in Tibet, bei den Eskimo, Alëuten, Konjagen und Koljuschen; auch fand man diese Sitte unter den Ureinwohnern am Orinoko sowie bei australischen, nukahiwischen und irokesischen Stämmen. Auf Ceylon und bei den Völkerschaften am Fuß des Himalaja sind die gemeinsamen Gatten der Frau stets Brüder. Fast genau so hielten es die alten Briten zu Cäsars Zeit. Viele moderne Forscher betrachten die P. als den Überrest einer ehemals bestandenen Gesellschaftsform, in welcher alle Frauen allen Männern gemeinsam waren (s. Gemeinschaftsehe). Vgl. Bachofen, Antiquarische Briefe (Straßb. 1881).

Polyándrus (griech.), vielmännig, von Blüten mit zahlreichen (20 und mehr) Staubgefäßen; davon Polyandria, 13. Klasse des Linnéschen Systems, welche Pflanzen mit zahlreichen auf dem Blütenboden eingefügten Staubgefäßen enthält.

Polyanos, ^[richtig: Polyänos, Polyainos] Rhetor und Sachwalter zu Rom in der Mitte des 2. Jahrh., aus Makedonien, schrieb ein (163 den Kaisern Marcus Aurelius und Lucius Verus gewidmetes) Werk: "Strategemata", welches Erzählungen aus der Geschichte fast aller bekannten Völker, namentlich Kriegslisten, enthält (hrsg. von Wölfflin, 2. Aufl. von Melber, Leipz. 1887; übersetzt von Blume und Fuchs, Stuttg. 1854).

Polyarchie (griech., "Vielherrschaft"), Staatsverfassung, nach welcher viele oder doch mehrere herrschen, im Gegensatz zur Einherrschaft oder Monarchie.

Polyarthritis rheumatica acuta, hitziger Gelenkrheumatismus; P. scarlatinosa. Gelenkentzündung nach Scharlach.

Polyästhesie, die bei manchen Nerven- und Rückenmarksleiden beobachtete Vervielfachung der Empfindung, besonders der Tastempfindung, infolge deren ein einfacher Reiz als ein doppelter empfunden wird.