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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Preußen

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Preußen (Staatsverfassung).

ger des landesherrlichen Kirchenregiments vollzieht. Er übt das Recht der Begnadigung und Strafmilderung und kann Orden und andre Auszeichnungen verleihen. Wichtige Hoheitsrechte sind mit Gründung des Reichs auf den Bundesrat und den deutschen Kaiser übergegangen (s. Deutschland, S. 836 f.). Der König ernennt und entläßt die Minister, er beruft den Landtag ein, schließt dessen Sitzungen und hat das Recht, denselben zu vertagen sowie das Abgeordnetenhaus aufzulösen. Der König genießt nebst den Mitgliedern des königlichen Hauses und des fürstlich hohenzollerischen Hauses besondern strafrechtlichen Schutz, Steuer- und Portofreiheit etc. Soweit die Erledigung der Regierungsgeschäfte nicht durch Vermittelung der Ministerien erfolgt, bedient sich der König des Geheimen Zivil- und des Militärkabinetts.

Den Staatsangehörigen räumt die Verfassungsurkunde unter anderm folgende Rechte ein: Gleichheit vor dem Gesetz (Standesvorrechte stehen nur den Mitgliedern des königlichen und des fürstlich hohenzollerischen Hauses und dem ehemals reichsunmittelbaren Adel zu), Gewährleistung der persönlichen Freiheit, Unverletzlichkeit des Eigentums, der Wohnung, des Briefgeheimnisses (mit Ausnahme des Ergreifens auf frischer That), Unstatthaftigkeit der Ausnahmegerichte und des bürgerlichen Todes; Freiheit der Auswanderung, des Glaubens, der Wissenschaft, der freien Meinungsäußerung, der Presse etc. (in den Grenzen des Strafgesetzbuchs), das Recht zu friedlichen, unbewaffneten Versammlungen in geschlossenen Räumen und der Vereinigung in nicht straffälligen Gesellschaften. Ebenso haben die allgemeine Wehrpflicht, Schulpflicht etc. verfassungsmäßige Anerkennung gefunden.

Als verfassungsmäßige Vertretung der Staatsbürger zur Mitwirkung und Beteiligung an der gesetzgebenden Gewalt besteht der Landtag. Derselbe ist aus zwei Kammern zusammengesetzt, von denen zufolge des Gesetzes vom 30. Mai 1855 die erste Herrenhaus, die zweite Haus der Abgeordneten genannt wird. Beide sind gleichberechtigt, die Beratungen erfolgen gesondert und nur bei der Beschlußnahme über Einsetzung einer Regentschaft gemeinsam. Beide Häuser können schriftliche Petitionen entgegennehmen und den Ministern überweisen, von diesen über eingegangene Beschwerden Auskünfte verlangen (Interpellationsrecht), selbständig Gesetzanträge einbringen und Adressen an den König richten. Das vornehmste Recht aber (insbesondere des Abgeordnetenhauses) besteht in der Einnahmen- und Ausgabenbewilligung, in der Kontrolle der Staatsschuldenverwaltung. Das Herrenhaus besteht nach dem Gesetz vom 7. Mai 1853 und spätern königlichen Erlassen gegenwärtig aus im ganzen 310 Mitgliedern, bez. Stimmen, von denen 41 ruhen. Die Kategorien der Mitglieder und Stimmen sind folgende: I. Die Prinzen des königlichen Hauses, sobald dieselben nach erlangter Großjährigkeit vom König in das Herrenhaus berufen werden; II. Mitglieder mit erblicher Berechtigung (im ganzen 98, davon 28 Stimmen ruhend): 1) Haupt des fürstlichen Hauses Hohenzollern, 2) Häupter der vormals reichsständischen Häuser in den königlich preußischen Landen, zur Zeit 22, davon 6 ruhend, 3) Fürsten, Grafen und Herren, zur Zeit 75, davon 22 ruhend, 4) durch besondere königliche Verordnung; III. auf Lebenszeit berufene Mitglieder (46): 1) die Inhaber der vier großen Landesämter in P., 2) aus besonderm allerhöchsten Vertrauen berufen, zur Zeit 42; IV. infolge von Präsentation berufene Mitglieder (im ganzen 165, davon aus den Landesuniversitäten 9 und als Vertreter von Städten 44). Das Haus der Abgeordneten besteht lediglich aus den von den Staatsbürgern gewählten Repräsentanten, deren Anzahl auf 433 festgesetzt ist. Die Wahlen erfolgen auf Grund der Verordnung vom 30. Mai 1849, welche auch gesetzlich auf die hohenzollerischen Fürstentümer und die neuen Provinzen ausgedehnt ward. Die Wahl der Abgeordneten ist eine mittelbare und geschieht mittels Wahl der Wahlmänner (Urwahlen) und mittels Wahl der Abgeordneten durch die Wahlmänner. Auf je 250 Seelen wird ein Wahlmann gewählt. Die Urwähler zerfallen nach Maßgabe der von ihnen zu entrichtenden direkten Steuern in drei Abteilungen und zwar in der Art, daß auf jede Abteilung ein Dritteil der Gesamtsumme der Steuerbeträge aller Urwähler fällt (Höchstbesteuerte, Minderbesteuerte, am niedrigsten oder gar nicht Besteuerte). Das Mandat der Abgeordneten erstreckt sich auf die Dauer der Legislaturperiode, die durch Gesetz vom 27. Mai 1888 auf fünf Jahre festgesetzt ist. Zum Abgeordneten ist jeder Preuße wählbar, der das 30. Lebensjahr vollendet hat, im Vollbesitz der bürgerlichen Rechte und bereits seit einem Jahr preußischer Staatsangehöriger gewesen ist, während die Wähler aus allen wenigstens 24 Jahre alten Preußen bestehen, die seit sechs Monaten in der Gemeinde wohnen und keine Armenunterstützung empfangen. Die Kammern werden durch den König, so oft es die Umstände erheischen, berufen, sollen aber in jedem Etatsjahr (1. April bis 31. März) wenigstens einmal und zwar spätestens Mitte Januar zur Beratung des Staatshaushaltsgesetzes zusammentreten. Erfolgt eine Auflösung des Abgeordnetenhauses, so müssen innerhalb eines Zeitraums von 90 Tagen nach derselben die neugewählten Kammern versammelt werden. Beide Häuser werden gleichzeitig berufen, eröffnet, vertagt und geschlossen. Die Vertagung des Landtags darf aber ohne Zustimmung desselben nicht über 30 Tage dauern und sich nicht während einer und derselben Session wiederholen. Jedes Haus regelt seinen Geschäftsgang und seine Disziplin durch eine Geschäftsordnung und wählt seinen Präsidenten, seine Vizepräsidenten und Schriftführer für die Dauer der Sitzungsperiode. Niemand kann Mitglied beider Häuser sein. Die Sitzungen sind öffentlich. Das Herrenhaus ist bei Anwesenheit von 60, das Abgeordnetenhaus bei Anwesenheit der Mehrzahl seiner Mitglieder beschlußfähig. Die Mitglieder beider Häuser sind Vertreter des ganzen Volkes und an Instruktionen nicht gebunden. Sie können für ihre im Haus ausgesprochenen Meinungen nur innerhalb des Hauses zur Rechenschaft gezogen werden. Kein Mitglied des Landtags kann ohne Genehmigung des betreffenden Hauses während der Sitzungsperiode zur Untersuchung gezogen oder verhaftet werden, außer wenn es bei Ausübung der That oder im Lauf des nächstfolgenden Tags ergriffen wird. Die Minister oder deren Stellvertreter haben Zutritt in beide Häuser und müssen jederzeit auf ihr Verlangen gehört werden, sind aber nur dann stimmberechtigt, wenn sie Mitglieder des betreffenden Hauses sind. Die Beschlüsse werden in beiden Häusern nach absoluter Stimmenmehrheit gefaßt, welche auch für Verfassungsänderungen genügt; nur müssen bei solchen zwei Abstimmungen stattfinden, zwischen denen ein Zeitraum von wenigstens 21 Tagen liegen muß. Zu jedem Gesetz ist die Übereinstimmung des Königs und der beiden Häuser des Landtags erforderlich.