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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Preußen

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Preußen (Geschichte: Friedrich Wilhelm III., bis 1823).

rüstung ergänzen und dabei die Steuerlast des erschöpften Landes schonen mußte: so waren doch bereits 1820 die Finanzen des Staats geregelt. Der König trat die Krondomänen dem Staat ab, indem er sich bloß eine Rente von 2½ Mill. Thlr. (den sogen. Kronfideikommißfonds) vorbehielt. Das Budget wurde 30. Mai 1820 auf ein Maximum von 50,363,150 Thlr. jährlich festgesetzt, zur Verzinsung und Tilgung der noch 180 Mill. Thlr. betragenden Schulden jährlich 10 Mill. bestimmt und verordnet, daß ohne Bewilligung und Garantie der Reichsstände keine neue Anleihe aufgenommen werden dürfe. In allen Zweigen der Verwaltung, auch im Heerwesen, wurde die genaueste Sparsamkeit zur strengsten Pflicht gemacht. Das Steuerwesen wurde 1818 einer gründlichen Reform unterzogen. Die Thoraccise wurde nur für Salz, Tabak, Bier und Branntwein beibehalten und statt der aufgehobenen Accise in 126 größern Städten die Mahl- und Schlachtsteuer, von der den Städten ein Drittel als Anteil zufiel, in den kleinern Städten und auf dem flachen Lande die Klassensteuer eingeführt (26. Mai 1818). Zugleich wurde in Zollsachen ein freihändlerisches System angenommen und dahin gestrebt, durch Vereinbarungen mit den benachbarten deutschen Staaten das Zollgebiet abzurunden und zu erweitern, woraus der für die deutsche Politik Preußens so wichtige Deutsche Zollverein (1. Jan. 1834) hervorging.

Eine eifrige und erfolgreiche Thätigkeit widmete das zum großen Teil freisinnige, vom Geiste der Kantschen Philosophie erfüllte Beamtentum der geistigen Entwickelung des Volkes, dem öffentlichen Unterricht. 1817 wurde ein besonderes Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten errichtet und dasselbe Altenstein übertragen, der sich als aufgeklärter und einsichtsvoller Unterrichtsminister bewährte. Die Universitäten wurden um Bonn vermehrt und neu organisiert, das höhere Schulwesen durch strenge Prüfungsvorschriften, weise Reglements und Einrichtungen auf eine hohe Stufe der Entwickelung gehoben, 40 Gymnasien neu errichtet, dem Volksschulwesen durch Einführung der allgemeinen Schulpflicht eine feste Grundlage gegeben. In dieser stillen Arbeit einsichtiger Verwaltung errang die preußische Regierung unter Friedrich Wilhelm III. von 1814 bis 1840 große und dauernde Erfolge. Wenn dieselben nicht die verdiente Anerkennung fanden, wenn sich trotzdem die Volksstimmung in den neuen Provinzen ablehnend verhielt, aber auch in Altpreußen sich Unzufriedenheit und Mißmut regten, so lag das an dem Verhalten der Regierung in der Verfassungsfrage, in der auswärtigen Politik und in den kirchlichen Angelegenheiten.

Die Verfassungsfrage, die auswärtige und die kirchliche Politik unter Friedrich Wilhelm III.

Als Friedrich Wilhelm III. das preußische Volk zum zweitenmal zum Kampf gegen Napoleon aufrufen mußte, erließ er vom Wiener Kongreß aus auf Steins und Hardenbergs Rat 22. Mai 1815 eine Verordnung, in welcher er der preußischen Nation als Pfand seines Vertrauens eine Repräsentativverfassung versprach. Eine Kommission trat 1. Sept. in Berlin zusammen, um eine Verfassungsurkunde auszuarbeiten. Auch setzte die preußische Diplomatie die Aufnahme von Art. 13 in die deutsche Bundesakte durch, welche für alle deutschen Bundesstaaten ständische Verfassungen verhieß. Aber selbst unter den Anhängern der Verfassung, wie Stein, Humboldt, Gneisenau u. a., bestand über die Grundzüge derselben keine Übereinstimmung, und sie hatte eine Menge Gegner, teils solche, welche in aufrichtiger Fürsorge für das Wohl des Staats von der Sondersucht und den fremdartigen politischen Anschauungen der Abgeordneten der neuen Provinzen die bedenklichsten Folgen für die Einheit Preußens fürchteten, teils solche, die, wie Wittgenstein, Knesebeck, Bülow, Herzog Karl von Mecklenburg, in Standesinteressen befangen und bequem, jeder Neuerung feind waren. Dazu kam der Einfluß des Kaisers von Rußland und Metternichs, welche jede freiere Bewegung in P. verabscheuten, weil diese einen Aufschwung von Preußens Macht bewirkt und sie selbst zur Berücksichtigung der Wünsche ihrer Völker gezwungen hätte.

Friedrich Wilhelm III. war nur zu geneigt, diesen Einflüssen nachzugeben, da er selbst dem konstitutionellen Wesen höchst abhold war und seine absolutistische Gewalt zwar durch selbstgegebene Gesetze, aber nicht durch eine öffentliche Versammlung beschränkt wissen wollte. Er hatte allerdings sein Wort verpfändet, sich aber nicht zu einem bestimmten Termin verpflichtet, und das ihm lästige Drängen Hardenbergs trieb ihn erst recht in die Arme der Reaktionäre. Deren verderbliches Wirken gab sich zuerst im Januar 1816 in der Unterdrückung von Görres' "Rheinischem Merkur" und der Aufhebung des Tugendbundes kund, und sie fanden 1817 in dem Wartburgfest der Jenaer Burschenschaft und gar 1819 in der Ermordung Kotzebues durch Sand die Anlässe, den König völlig von der freisinnigen Politik abzuschrecken und ihn zu den schlimmsten Polizeimaßregeln fortzureißen. Eine schmähliche Demagogenverfolgung wurde nun im Verein mit Österreich ins Werk gesetzt, Männer wie Jahn, Arndt und Welcker verhaftet, Gneisenau und Schleiermacher von Spionen umgeben, jede Äußerung einer konstitutionellen Gesinnung als Majestätsverbrechen mit Strafe bedroht und die Karlsbader Beschlüsse (s. d.) 18. Okt. 1819 verkündet: Boyen, Grolman, Humboldt und Beyme nahmen jetzt ihren Abschied; die Gemeindeordnung, welche vollendet war, wurde zurückgenommen; von einer konstitutionellen Verfassung war keine Rede mehr; statt ihrer wurden durch Gesetz vom 5. Juni 1823 Provinzialstände eingeführt, durch welche die absolute Büreaukratie nur zu gunsten des Standesinteresses der Junker beschränkt wurde. Die Reaktion hatte einen vollständigen Sieg erfochten und machte die preußische Regierung durch die kleinlichsten und doch empfindlichsten Polizeiquälereien zugleich lächerlich und verhaßt. Die Masse des Volkes, besonders in den östlichen Provinzen, wurde zwar von diesen Vorgängen wenig berührt, da sie ganz mit der mühevollen Heilung der Kriegsschäden und der Wiedererwerbung des verlornen Wohlstandes beschäftigt war. Um so mehr aber waren die gebildeten Stände verletzt und erbittert durch eine solche Belohnung des großartigen Aufschwungs im Befreiungskrieg und beschämt, daß das preußische Volk, welches mit seinem Gut und Blut den Thron und Staat wieder aufgerichtet, von so erbärmlichen Menschen wie Kamptz, Schmalz u. a. verhöhnt und beleidigt und um seine höchsten Ideale betrogen werden durfte, während die Rheinbundstaaten mit konstitutionellen Verfassungen sich brüsten konnten. Die Anerkennung und Liebe, die sich P. durch seine Opfer und Thaten bei dem patriotischen und liberalen Teil des deutschen Volkes erworben, gingen infolge des Verhaltens der preußischen Regierung in der Verfassungsfrage und der Demagogenverfolgung fast gänzlich verloren, und selbst im Beamtentum griffen Mißstimmung und Gleichgültigkeit um sich.