Schnellsuche:

Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Preußen

373

Preußen (Geschichte: Friedrich Wilhelm IV., bis 1849).

Not, besonders in Oberschlesien, 1847 gesteigert und kam infolge der Pariser Februarrevolution 1848 zum Ausbruch. Die Adressen und Deputationen städtischer Behörden an den König, um ihm die Forderungen des Volkes vorzutragen, häuften sich. In Berlin wurde die Volksbewegung durch Abgesandte der großen Umsturzpartei in Paris, deutsche Flüchtlinge, Franzosen und Polen, geschürt und stürmische Volksversammlungen an den Zelten abgehalten; wiederholt kam es zu blutigen Zusammenstößen mit dem Militär. Um den Sturm zu beschwichtigen, erfüllte der König die Bitte der Berliner Stadtverordneten (13. März) und berief den Landtag auf 27. April zusammen. Als die Aufregung, namentlich seit der Kunde von dem Sturz Metternichs in Wien, dennoch stieg, erschien 18. März eine königliche Proklamation, welche den Landtag schon zum 2. April berief und die Verwandlung Deutschlands in einen Bundesstaat mit Parlament, Flotte etc. sowie im Innern wichtige Reformen verhieß. Sofort stürmte eine große Volksmenge nach dem Schloß, und lauter Jubel empfing den Monarchen, als er auf dem Balkon sich zeigte und seine Zusagen mündlich wiederholte. Da fielen plötzlich an einem Portal des Schlosses, wo das Volk dicht an die das letztere schützenden Truppen herandrängte, aus der Mitte derselben aus Versehen zwei Schüsse. Mit dem Rufe: "Verrat! Rache! Zu den Waffen!" stoben die Volkshaufen auseinander und verbreiteten mit Blitzesschnelle in der Stadt das Gerücht von einem Blutbad unter friedlichen Bürgern. Schnell waren in den Straßen gegen 200 von den geheimen Agitatoren schon vorbereitete Barrikaden errichtet und von zahlreichen, obschon schlecht bewaffneten Kämpfern besetzt (Märzrevolution). Nach erbittertem Kampf Straße für Straße, Haus für Haus gelang es den Truppen, die wichtigsten Stadtteile zu erobern, so daß am Morgen des 19. März der Sieg entschieden auf ihrer Seite war. Aber statt nun den Aufruhr völlig zu überwältigen und nach Herstellung der Ordnung die angekündigte deutschnationale Politik mit fester Hand durchzuführen, erließ der König, körperlich und geistig erschöpft, dem Drängen verschiedener Korporationen nachgebend, den Befehl, daß die Truppen Berlin räumten, und vertraute sich dem Schutz der Berliner Bürgerwehr an. Jedoch seine milde Proklamation an seine "lieben Berliner" und sein feierlicher Umritt durch die Stadt (21. März) vermochten gegenüber den Verleumdungen der Presse ihm die Popularität ebensowenig wieder zu verschaffen wie die Ernennung eines neuen Ministeriums Arnim-Boitzenburg, eine Amnestie (20. März) und die Berufung einer Nationalversammlung zur Beratung einer Verfassung (22. März). Ja, die Bürgerwehr schützte ihn nicht vor Demütigungen und Beleidigungen des rohen Pöbels. Eine feierliche Bestattung der gefallenen Soldaten (3 Offiziere u. 17 Mann) wurde nicht geduldet, dagegen der König gezwungen, den Leichenzug der 187 Barrikadenkämpfer vom Schloßbalkon entblößten Hauptes zu begrüßen (22. März). Der Prinz von P. (Kaiser Wilhelm) wurde zur Flucht nach England genötigt, sein Palais zum Nationaleigentum erklärt. Überall verlor das Volk das Vertrauen zu der Macht der Monarchie, und ermutigt durch die Freilassung der 1847 wegen einer Verschwörung verurteilten und im Zellengefängnis zu Moabit inhaftierten Landsleute, machten die Polen in der Provinz Posen einen Aufstand.

Nachdem 29. März das liberale Ministerium L. Camphausen ernannt worden und der Vereinigte Landtag das Wahlgesetz für die Konstituierende Nationalversammlung genehmigt hatte (2.-10. April), fanden die Wahlen für dieselbe statt; sie waren indirekt, aber fast ohne Zensus. Aus ihnen gingen fast nur Liberale und Radikale hervor und zwar, weil die bedeutendsten Männer für das Frankfurter Parlament gewählt wurden, meist Männer ohne Erfahrung und Gewicht. Die Versammlung ward 22. Mai vom König eröffnet, verkannte ganz ihre Aufgabe, dem Staat rasch eine konstitutionelle Verfassung und damit innere Ordnung und Aktionskraft nach außen zu geben, ließ sich vielmehr von der radikalen Presse und dem Berliner Pöbel, der bei der völligen Unthätigkeit der Behörden neue Exzesse beging und das Zeughaus stürmte, beeinflussen und lehnte den von der Regierung vorgelegten Verfassungsentwurf ab. Statt nun selbst einen Entwurf zum Abschluß zu bringen, mischte sich die Versammlung in die Staatsverwaltung, verlangte die Verabschiedung aller nicht konstitutionell gesinnten Offiziere und beschloß 7. Sept. auf Antrag Steins, daß das Ministerium verpflichtet sei, ihre Beschlüsse unbedingt auszuführen. Die Demagogie gebärdete sich immer dreister und terrorisierte die Versammlung. Die Ministerien Hansemann (25. Juni) und Pfuel (21. Sept.) waren nicht im stande, die Autorität der Behörden aufrecht zu erhalten. Da ernannte der König, ermutigt durch das Wiedererwachen der monarchischen Gesinnung im Volk, 1. Nov. das Ministerium Brandenburg (das Ministerium der "rettenden That") und verlegte, als die Nationalversammlung in einer Adresse gegen dasselbe protestierte, 8. Nov. dieselbe nach Brandenburg. Die überwiegende Mehrheit beschloß nach Verlesung der Kabinettsorder 9. Nov., derselben nicht Folge zu leisten, sondern in Berlin weiter zu tagen. Doch wurden die Sitzungen im Schauspielhaus 10. Nov., nachdem General v. Wrangel mit 15,000 Mann in Berlin eingezogen war, geschlossen; 227 Mitglieder beschlossen 15. Nov. im Mielentzschen Lokal auf Antrag von Schulze-Delitzsch die Steuerverweigerung und erließen einen Protest, ohne jedoch, von einzelnen Ausnahmen abgesehen, beim Volk Nachfolge zu finden. Die Versammlung trat 27. Nov. in Brandenburg wieder zusammen, wurde aber 1. Dez. durch den Austritt der Opposition beschlußunfähig gemacht und 5. Dez. aufgelöst, worauf der König eine sehr freisinnige Verfassung und ein Wahlgesetz für die zwei Kammern oktroyierte, welche 26. Febr. 1849 zur Revision der Verfassung sich versammeln sollten.

Inzwischen hatte P. auch in der deutschen Frage handeln müssen. Es hatte Truppen nach Schleswig-Holstein geschickt, um die Befreiung der Elbherzogtümer von Dänemark zu bewirken, den dänischen Krieg aber durch den Waffenstillstand von Malmö unterbrochen, weil er durch die Blockade der deutschen Häfen dem Handel zu sehr schadete. Den Beschlüssen des Frankfurter Parlaments hatte es sich meist gefügt, aber wegen der innern Wirren nichts gethan, um die Leitung der deutschen Angelegenheiten in die Hand zu nehmen. Die Gunst der Umstände bewirkte gleichwohl, daß 28. März 1849 der König von P. vom deutschen Parlament zum Kaiser erwählt wurde. Aber Friedrich Wilhelm IV. weigerte sich 3. April, diese Krone aus der Hand der Revolution anzunehmen, die er vielleicht gegen seine Mitfürsten, besonders Österreich, mit den Waffen hätte verteidigen müssen, und die Reichsverfassung anzuerkennen. Die Zweite Kammer, die diese 21. April für rechtsgültig erklärte, wurde 27. April aufgelöst und die Erhebungen für die Reichsverfassung in Dresden, am Rhein, in der Pfalz u. Baden durch preußische Truppen unterdrückt.