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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Psyche; Psychiatrie

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Psyche - Psychiatrie.

erduldet. Die wahrscheinlich auf Platonischen Ideen beruhende Allegorie findet sich zuerst bei Meleagros (1. Jahrh. v. Chr.) deutlich ausgesprochen, wird aber von ihm als schon bekannt vorausgesetzt. Sie liegt zahlreichen Bildwerken zu Grunde, die bald P. darstellen, wie sie vom Liebesgott gequält, gefesselt und gezüchtigt wird und darüber weint und klagt, bald, wie sie sich an Eros rächt und gegen ihn Gewalt übt, oder endlich beide im Kuß vereinigt, wie namentlich in der berühmten Gruppe des kapitolinischen Museums zu Rom. Diese ältern Vorstellungen hat dann Apulejus (s. d.), wahrscheinlich nach einem griechischen Vorbild, in seinen "Metamorphosen" zu einer anmutigen, märchenhaften Erzählung verarbeitet und ausgeschmückt, deren Inhalt kurz folgender ist. Ein König hatte drei Töchter, von denen P. die jüngste und schönste. Amor (Eros) faßt gegen den Willen seiner Mutter Venus (Aphrodite) eine heftige Neigung zu ihr und läßt sie durch Zephyr an einen abgeschiedenen Ort entführen, wo er jede Nacht, von ihr ungesehen und unerkannt, bei ihr verweilt. Aber von ihren Schwestern, welche zu Besuch zu ihr kamen, verleitet, forscht sie, gegen sein Verbot, eines Nachts nach seinem Antlitz und wird deshalb von ihm verlassen. Nach langem Umherirren fällt sie der Venus in die Hände und wird von dieser zu vier schweren Arbeiten verurteilt. Als sie die aus der Unterwelt geholte Büchse mit Schönheitssalbe öffnet, fällt sie in Ohnmacht. Aus dieser befreit sie Amor, auf dessen Bitten Jupiter sie unsterblich und zur Frau des Amor macht. Die Tochter beider hieß Voluptas ("Wonne"). Unter den modernen künstlerischen Behandlungen der Geschichte der P. sind der Bildercyklus von Raffael (in der Farnesina zu Rom) und die plastischen Gruppen von Thorwaldsen und Canova auszuzeichnen. Vgl. Krahner, Eros und P. (2. Aufl., Wittenb. 1861); Primer, De Cupidine et P. (Bresl. 1865); Friedländer, Darstellungen aus der Sittengeschichte Roms, Bd. 1 (5. Aufl., Leipz. 1881); Zingow, P. und Eros (Halle 1881).

Psyche, Schmetterling, s. Sackträger.

Psychiatrie (griech., Seelenheilkunde, Psychopathologie, Lehre von den Geisteskrankheiten), derjenige Teil der Medizin, welcher sich mit der Erkennung und Behandlung der Geistes- und Gemütskrankheiten beschäftigt. Die von dem frühern Spiritualismus freie moderne Naturforschung erkennt in dem Gehirn das materielle Substrat der Seele; demnach haben die Geisteskrankheiten ihren Sitz in dem Gehirn und sind abhängig von Störungen in der Thätigkeit desselben. Da nun nicht alle Gehirnkrankheiten zugleich Geisteskrankheiten sind (das Gehirn hat neben den geistigen Funktionen noch andre), so ist die P. im strengern Sinn des Wortes nur ein Teil der Gehirnpathologie und zwar derjenigen Regionen, welche auf Grund zahlreicher Beobachtungen am Krankenbett und zahlreicher Tierversuche als der Sitz der höhern Seelenthätigkeit erkannt sind. Diese Regionen sind die Verbindungsbahnen (Associationsfasern) in den Rindenschichten des Großhirns, welche beim Menschen am höchsten entwickelt sind und in absteigender Stufenleiter um so mehr zurücktreten, je mehr die Intelligenz der Tiere auf Kosten stark entwickelter Sinnesorgane (Geruchssinn bei Hunden, Gesichtssinn bei Raubvögeln etc.) zurückbleibt. Trotz dieser Einschränkung auf ein anatomisch kleines Gebiet darf die P. doch wegen der großen Mannigfaltigkeit der Seelenkrankheiten ein selbständiges Interesse beanspruchen. Cs kommen dazu gewisse praktische Seiten, welche mit der P. in Verbindung stehen (das Irrenanstaltswesen, das Verhältnis zur gerichtlichen Medizin etc.), und diese haben der P. in der Medizin frühzeitig eine gewisse Selbständigkeit gegeben und ihr den Charakter einer von der übrigen praktischen Medizin etwas abseits liegenden Spezialwissenschaft verschafft. Die P. ist wohl der am meisten zurückstehende Spezialzweig der Medizin und zwar aus doppeltem Grunde. Der Spiritualismus früherer Zeiten ging an die Betrachtung der Geisteskrankheiten von einem psychologisierenden oder moralistischen Standpunkt heran; daß eine solche Behandlung nach unsern jetzigen Begriffen total unfruchtbar bleiben mußte, liegt auf der Hand. Auf der andern Seite liegt diese zurückbleibende Entwickelung in dem Gegenstand selbst, mit dem die P. sich beschäftigt. Die Geschichte der Medizin lehrt, daß die Fortschritte der Pathologie in genauestem Zusammenhang stehen mit dem Grad und dem Fortschreiten der anatomisch-physiologischen Erkenntnis der von Krankheiten ergriffenen Körperteile. Nun ist das Gehirn, insbesondere derjenige Teil desselben, welcher als Sitz der Seele aufzufassen ist, noch heute der Anatomie und Physiologie ein vollkommenes Rätsel; das wirkliche Geschehen in der Seele vermag noch heute keine Hypothese zu erklären. Es leuchtet danach ein, wie es mit unserm Wissen in Bezug auf die Pathologie der Seele stehen muß. Zwar hat die physiologische und pathologisch-anatomische Forschung gerade in der neuern Zeit auch für die P. Ansehnliches geleistet, doch ist zur Zeit das nosologische System der P. kaum mehr als eine Reihe von verschiedenen Symptomenkomplexen (vgl. Geisteskrankheiten).

Was die P. im engern Sinn des Wortes, die Seelenheilkunde, die Behandlung der Geisteskrankheiten, anlangt, so tritt als Grundzug der neuern P. hervor die Humanität in der Irrenbehandlung, im Gegensatz zu jener alten Roheit, welche die Geisteskranken bald mit Hexenprozessen oder Scheiterhaufen verfolgt, bald und noch in günstigern Fällen mit Verbrechern in die Kerker zusammengeworfen und dort die von der ärztlichen Kunst wie von jeder menschlichen Hilfe Verlassenen willkürlicher Grausamkeit und Brutalität preisgegeben hatte. Die immer mehr durchdringende Erkenntnis des Irreseins als einer Krankheit, hauptsächlich aber der eigentliche Philanthropismus, der den Irren vom Standpunkt der allgemeinen Menschenrechte auch ihre Rechte gab, setzte es zunächst durch, daß die Gesellschaft in den Irren Menschen erkannte, denen sie Schutz und Hilfe schuldig ist, daß sie immer mehr zum Gegenstand ernstlicher Fürsorge von seiten des Staats und tieferer zum Zweck der Heilung angestellten Forschung der Wissenschaft wurden. Frei von moralistischen Absichten ebenso wie von empfindsamen Anwandlungen, ist die psychiatrische Behandlung gegen das Irresein als gegen eine Krankheit gerichtet.

In Bezug auf das Heilverfahren sind zunächst zur Vorbeugung Heiraten unter zu Geisteskrankheiten angelegten Familien jedenfalls zu vermeiden. Da ferner erfahrungsgemäß die Seelenkrankheiten nicht selten erblich sind, zum mindesten die Anlage zu denselben sich von den Eltern auf die Kinder überträgt, so muß die Überwachung derselben, namentlich sobald sich in gewissen Zeichen die Anlage zu denselben kundgibt, frühzeitig auf das strengste gehandhabt werden. Jede Überanstrengung des Gehirns, angestrengte geistige und gemütliche Erregung ist zu vermeiden, dagegen soll ganz besonders die Ausbildung und Übung der körperlichen Kräfte im Auge behalten werden; es muß immer soviel wie möglich