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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Psychiatrie

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Psychiatrie.

auf die einfachsten, geordnetsten äußern Verhältnisse, auf Fernhaltung leidenschaftlicher Erregungen, auf Gewöhnung an Unterordnung unter objektiv gegebene Verhältnisse hingewirkt werden. Sind die Anzeichen einer wirklich ausgebrochenen Geisteskrankheit vorhanden, so ist das erste Erfordernis die Abhaltung aller schädlichen Einflüsse, insbesondere Beseitigung derjenigen Umstände, durch deren Zusammenwirken die Krankheit entstanden ist, daher vollständige Ruhe des Gehirns, Abhaltung der meisten auch sonst gewohnten, noch mehr natürlich aller stärkern, stets schädlichen Reize. Der Kranke sucht auch instinktiv diese Ruhe; er entzieht sich jedem lebhaftern psychischen Eindruck, jedem Lärm, jedem anstrengenden Gespräch und sucht die Einsamkeit. Jeder Versuch, diesem unbewußten Streben durch Zureden und Ermahnungen, durch Versetzen in lärmende, rauschende Zerstreuungen entgegenzuwirken, ist schädlich; der Kranke muß im Gegenteil in stille, friedliche und zugleich wohlthuend ansprechende Außenverhältnisse gebracht werden; oft ist selbst die strengste Abschließung von allem Verkehr, ja sogar die Fernhaltung aller Ton- und Lichteindrücke notwendig, das letztere besonders in frischen Erregungszuständen, zuweilen auch im Beginn und auf der Höhe der Melancholie. Eine tausendfältige Erfahrung hat gezeigt, daß diesen Anforderungen meist nur durch eine vollständige Umänderung aller Außenverhältnisse, durch gänzliche Entfernung des Kranken von seinen gewohnten Umgebungen, durch die Versetzung zu völlig andersartigen und neuen Eindrücken entsprochen werden kann. Nur selten genügt hierzu ein bloßer Wechsel des Wohnortes, etwa ein Landaufenthalt in einfachen, ansprechenden Umgebungen. Größere Reisen, in den mäßigern Zuständen von Hypochondrie oft von großem Nutzen, aber immer nur bei wenigen anwendbar, sind bei allem ausgebrochenen tiefern Irresein durchaus unzulässig, weil sie gewöhnlich die Aufregung nur vermehren. Dagegen ist die Versetzung in Verhältnisse, welche besonders für die Verpflegung solcher Kranken eingerichtet sind, in eine gute Irrenanstalt, die in der großen Mehrzahl der Fälle am dringendsten angezeigte Maßregel. Sie dient vor allem zum Schutz des Kranken, denn nirgends in den gewöhnlichen Lebensverhältnissen ist dieser vor Zudringlichkeit, vor einer auch beim besten Willen meistens höchst unzweckmäßigen Einwirkung seiner Umgebungen geschützt; nirgends findet er, wie hier, jene Schonung, welche aus einer klaren Einsicht in seinen Zustand hervorgeht. Die meisten Genesenen segnen ihren Eintritt in die Anstalt, und die Vorteile dieser Versetzung sind nicht nur in der P. zu einem durch die ausgedehnteste Erfahrung bestätigten Grundsatz geworden, sie werden auch immer mehr von Ärzten und selbst von Laien anerkannt. Wie günstig die Versetzung in die Irrenanstalt wirkt, zeigt sich in manchen Fällen darin, daß schon der Eindruck des Eintritts genügt, um die Krankheit zu brechen, daß bei einzelnen bis dahin höchst schwierig zu behandelnden Kranken von der Stunde ihrer Aufnahme an nicht nur vollständige Ruhe eintritt, sondern sogar die entschiedenste Rekonvaleszenz beginnt, während bei der großen Mehrzahl zum mindesten sofort eine auffallende Erleichterung eintritt. Hier allein, im Irrenhaus, findet der Kranke, der nicht mehr in die Welt der Gesunden taugt, alles beisammen, was sein Leiden erfordert: einen mit der Behandlung solcher Zustände vertrauten Arzt, geübte Wärter, eine ganze Umgebung, welche folgerichtig und den Umständen angemessen zu handeln weiß. Immerhin ist die Versetzung in eine Irrenanstalt, welche einerseits bei bestehender Geistesstörung nicht frühzeitig genug erfolgen kann, anderseits doch nicht ohne wichtige Folgen für das spätere bürgerliche Leben des Kranken ist, stets ein wohl zu überlegender Schritt. Die erste und dringendste Veranlassung gibt immer ein Zustand des Kranken, wo er sich selbst oder andern gefährlich werden oder sonstige große Störungen verursachen kann, also der Ausbruch der Tobsucht oder dringende Zeichen ihrer Annäherung, ebenso der Hang zum Selbstmord, dem in Privatverhältnissen nie sicher begegnet werden kann, ebenso eine nicht bald zu überwindende Nahrungsverweigerung. In die Irrenanstalt gehören ferner alle Wahnsinnigen, gefährlichen Verrückten und viele unruhige Blödsinnige. Auch der beginnende stille Blödsinn, unter dem sich oft etwas andres versteckt, findet dort noch am ehesten eine richtige Beurteilung und Behandlung; der sekundäre apathische und paralytische Blödsinn dagegen gestattet, wo eine sorgfältige Verpflegung stattfinden kann, den Aufenthalt in Privatverhältnissen. Die Fälle von Schwermut sind in dieser Beziehung schwierig zu beurteilen; erst bei in ihrer Stärke sich steigernden Anzeichen dürfte auch hier die Versetzung in eine Irrenanstalt zu empfehlen sein. In vielen Fällen hängt im allgemeinen die Notwendigkeit der Überführung in eine Irrenanstalt weniger von der Form und Art der Krankheit als von den Außenverhältnissen und dem Charakter des Kranken ab.

Die direkte Behandlung der Geisteskranken in den Irrenanstalten ebenso wie außerhalb derselben ist eine somatische (körperliche) und eine psychische (auf geistigem Weg wirkende). Die somatische Behandlung geschieht, da es besondere Heilmittel gegen Geisteskrankheiten nicht gibt, nach allgemeinen medizinischen Regeln, welche nur in seltenen Fällen individuelle Abänderungen zulassen; viele dieser Kranken genesen bei einer nur nicht positiv schädlichen Behandlungsweise ganz von selbst. Das psychische Heilverfahren hat wesentlich zwei Ziele: es sollen die krankhaften Stimmungen, Gefühle und Vorstellungen, welche jetzt die frühere gesunde Individualität zurückdrängen, gehoben und entfernt werden; anderseits soll wieder möglichst hingewirkt werden auf Wiederherstellung und Stärkung des alten Ich selbst. In ersterer Beziehung führt ein direktes Bekämpfen der verkehrten geistigen Thätigkeit kaum je zu einem günstigen Ziel, ebensowenig nutzt das sogen. Eingehen auf den Wahn des Kranken; die einzig richtige Methode ist die psychische Ableitung. Es muß allem, was mit dem Wahn des Kranken im Zusammenhang steht, ausgewichen und durch Arbeit und Zerstreuung gesunder Art der Geist desselben anderweitig in Anspruch genommen werden. Daher ist unter allen psychischen Mitteln eine zweckmäßige Beschäftigung des Kranken, welche zugleich das alte Ich stärkt und kräftigt, das oberste und wichtigste. Hier muß sich die praktische Menschenkenntnis des Arztes bewähren im Durchschauen einer Persönlichkeit, in dem verschiedenen Anfassen der Individualitäten nach der Verschiedenheit der Charaktere, Neigungen, Gewohnheiten und Bildungsstufen, im Auffinden aller der Seiten, von denen aus der Kranke empfänglich ist. Garten- und Feldarbeit, häusliche und handwerksmäßige, der künstlerischen sich annähernde Beschäftigungsweisen sind je nach den Verhältnissen der Person anzuwenden, daneben angemessene geistige Beschäftigung durch Zerstreuungen, zweckmäßige Unterhaltung und Lektüre, allenfalls methodischer Unterricht; unter Umständen ist vernünftig gehandhabte