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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Radolin; Radom; Radomysl; Radotieren; Radowitz

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Radolin - Radowitz.

gerichtsgebäude), die Villa V. v. Scheffels an der Seehalde, eine Haushaltungsschule für Bauerntöchter, eine landwirtschaftliche Winterschule, ein Amtsgericht, eine Bezirksforstei, eine mechanische Werkstätte mit Eisen- und Metallgießerei und Pumpenfabrikation, Trikotweberei, Bild- und Steinhauerei, Weinbau, Wein-, Obst-, Getreide- und Viehhandel, künstliche Fischzucht und (1885) 2333 meist kath. Einwohner. - R. entstand um ein im 9. Jahrh. von Bischof Ratolf von Verona gegründetes Kloster, war später der Hauptort der hegauischen Ritterschaft und gehörte zur österreichischen Grafschaft Nellenburg.

Radolin, Hugo Leszczyc, Fürst von, Oberhof- und Hausmarschall des Kaisers Friedrich III., wurde im April 1888 zum Fürsten von R. erhoben; s. Leszczyc.

Radom, russisch-poln. Gouvernement, grenzt im O. an das Gouvernement Lublin, im N. an Sjedletz und Warschau, im W. an Petrokow, im S. an Kjelzy und Land, ist im N. ziemlich eben, im S. erhebt es sich in Galizien und umfaßt 12,352 qkm (224,3 QM.). Das der Lyssa Gora (Lyssitza) zu 744 m Höhe. Die bedeutendsten Flüsse sind die Weichsel mit der Piliza, welche nach O., N. und W. hin die Grenzen des Gouvernements bilden. Das Klima ist ziemlich kalt und feucht, die mittlere Jahrestemperatur +8,4° C. (Juli +25°, Januar -21,2° C.). Die Zahl der Einwohner beträgt (1885) 680,303 (55 pro QKilometer); der natürliche Jahreszuwachs ist 2,5 Proz. Die katholische Kirche ist am zahlreichsten vertreten (80 Proz.); der Rest fällt auf Juden, Protestanten und Rechtgläubige (500). R. hat sehr fruchtbaren Boden, und die Landwirtschaft ist stark entwickelt, obwohl größtenteils noch die Dreifelderwirtschaft im Gebrauch ist. Vom Areal kommen 51 Proz. auf Ackerland, 6,8 Proz. auf Wiesen, 28,6 Proz. auf Wald und 13,6. Proz. auf Unland. Man baut Weizen (sogen. Sandomirka, nach der Stadt Sandomir), Roggen, Hafer, Gerste, Buchweizen, Kartoffeln, Rüben, Hülsenfrüchte, Hirse-, Rüb-, Lein- und Hanfsamen, Waid, Anis und Safran. Das Mineralreich liefert Eisenerze, Marmor (sogen. Checinski) in allen Farben, Alabaster, Gips, roten Sandstein und vorzüglichen Töpferthon. Unter den Jagdtieren sind Hirsch und Reh noch häufig, auch Adler werden mitunter noch angetroffen. Die Industrie geht in 199 Betrieben mit 2549 Arbeitern vor sich, und ihre Produktion repräsentiert (1884) einen Wert von 4 Mill. Rubel; Branntweinbrennerei und Likörfabrikation, Rübenzuckerfabrikation, Bierbrauerei, Getreidemüllerei, Gerberei und Ziegelbrennerei sind die hauptsächlichsten Zweige. Der Handel ist ganz in Händen der Juden; zur Ausfuhr kommen vornehmlich Getreide, Häute und Borsten, eingeführt werden Öl, Früchte, Wein, Schmiedeeisen, Salz. Unterrichtsanstalten gibt es 181 mit 11,402 Schülern, nämlich 4 Mittelschulen, 175 Elementarschulen und 2 Fachschulen (1 geistliches und 1 Lehrerseminar). R. hat 7 Kreise: Ilcha, Konsk, Kosenitzy, Opatow, Opotschna, R. und Sandomir. - Die gleichnamige Hauptstadt, am rechten Ufer der Radomka (auch Mleczna) und an der Eisenbahn Iwangorod-Dombrowo, hat alte Befestigungen, mehrere Klöster, 3 altertümliche katholische, eine orthodoxe, eine protest. Kirche, eine Synagoge, eine Realschule und eine öffentliche Bibliothek. Der Handel ist lebhaft, von Industriezweigen jedoch nur die Gerberei nennenswert. Die Einwohnerzahl beträgt (1885) 12,402. Die Stadt soll 1364 von Kasimir d. Gr. gegründet sein; 1505 wurde hier ein Reichstag abgehalten, auf welchem die Privilegien des Adels bestätigt wurden, und 1767 schlossen hier die Dissidenten aus den polnisch-preußischen und litauischen Provinzen einen Bund, zu dessen Oberhaupt sie Karl Radziwill erwählten.

Radomysl, Kreisstadt im russ. Gouvernement Kiew, am Bug, hat eine orthodoxe und eine protest. Kirche, eine Synagoge und (1885) 7086 Einw. (zwei Drittel Juden); Haupthandelszweig ist Verschiffung von Holz und Getreide flußabwärts. Von 1746 bis 1795 war R. Sitz des Metropoliten der unierten Kirche.

Radotieren (franz.), albern reden, faseln; Radotage (spr. -ahsch), leeres Geschwätz, Faselei.

Radowitz, Joseph von, preuß. General und Staatsmann, geb. 6. Febr. 1797 zu Blankenburg am Harz, Sprößling eines ungarischen katholischen Geschlechts, trat im Dezember 1812 als Leutnant in die westfälische Artillerie ein. Er befehligte in der Schlacht bei Leipzig eine Batterie und fiel verwundet in Gefangenschaft. In kurhessischen Militärdienst übergetreten, wurde er 1814 als erster Lehrer der Mathematik und der Kriegswissenschaften an der Kadettenanstalt zu Kassel angestellt. 1821 avancierte er zum Hauptmann im Generalstab, 1823 trat er in preußische Dienste und ward darauf auch zum militärischen Lehrer des Prinzen Albrecht ernannt. 1828 erfolgte seine Ernennung zum Major und Mitglied der obersten Militärstudienbehörde, zum Lehrer an der Kriegsschule sowie zum Mitglied der Artillerieprüfungskommission und 1830 zum Chef des Generalstabs der Artillerie. Von reicher und vielseitiger Bildung, wurde er der Freund des ihm geistesverwandten Kronprinzen, nachherigen Königs Friedrich Wilhelm IV. 1836 preußischer Militärbevollmächtigter beim Bundestag, 1842 Gesandter bei den Höfen zu Karlsruhe, Darmstadt und Nassau, wurde er 1845 zum Generalmajor ernannt. Damals gab er über die schleswig-holsteinische Frage die Schrift "Wer erbt in Schleswig?" (Karlsr. 1846) und das berühmte, auch durch klassische Form ausgezeichnete Buch "Gespräche aus der Gegenwart über Staat und Kirche" (Stuttg. 1846, 4. Aufl. 1851) heraus. Der Verfasser ("Waldheim") zeigt sich darin als Anhänger der sogen. historischen Schule und der ständischen Monarchie. Seine Ansichten suchte Friedrich Wilhelm IV. indem Verfassungspatent vom 3. Febr. 1847 zu verwirklichen. Im November 1847 und März 1848 ging R. nach Wien, um mit der österreichischen Regierung über eine Neugestaltung des Deutschen Bundes zu unterhandeln, und seine Schrift "Deutschland und Friedrich Wilhelm IV." (Hamb. 1848) wollte nachweisen, daß diese Absicht in dem König festgestanden habe, seitdem er zur Regierung gelangt, nicht erst durch die Bewegung von 1848 hervorgerufen sei. Als Mitglied des Frankfurter Parlaments war er Führer der äußersten Rechten. Preußens Versuch, nach der Auflösung des Parlaments durch das Dreikönigsbündnis die Union Deutschlands unter Preußens Führung zu begründen, ward hauptsächlich unter seiner Mitwirkung gemacht, und er vertrat die Unionspolitik sowohl 1849 vor den preußischen Kammern als auch vor dem (März 1850) nach Erfurt berufenen Parlament. Nachdem er schon seit Mai 1849 thatsächlich die auswärtige Politik Preußens geleitet, übernahm er 27. Sept. 1850 förmlich das Portefeuille des Auswärtigen und legte, als die Entscheidung der deutschen Frage durch Waffengewalt unvermeidlich schien, ein Programm vor, das zu offenem Widerstand gegen die Politik Österreichs und seiner Verbündeten riet. Die Verwerfung desselben durch den König hatte seinen Rücktritt (2. Nov.) zur Folge. Er zog sich nach Erfurt zurück und schrieb hier seine