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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Reisen

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Reisen (Entdeckungs-, wissenschaftliche Forschungsreisen).

zu weiten Reisen Veranlassung gab. So unternahmen die Phöniker große Handelsexpeditionen in weit entlegene Teile der Alten Welt, so wagten sich die Polynesier auf ihren unsichern Kanoes über Meeresstrecken, welche man nach dem Stand ihrer nautischen Kenntnisse und ihrer Fahrzeuge als ungeheure bezeichnen muß. Das zweite Motiv in historischer Folge war das religiöse, und wenn auch dieses jetzt in seiner Wirkung gegen andre Motive sehr zurücktritt, so war es doch in frühern Zeiten und ist in manchen Ländern auch noch heute eine gewaltige Triebkraft zu Reiseunternehmungen, bei welchen religiöse und kommerzielle Interessen sich häufig verquicken. Später lösten sich von den nur materiellen Zwecken dienenden Reisen die wissenschaftlichen Forschungsreisen los, noch später sind die gefolgt, welche sanitären oder Vergnügungszwecken ihre Entstehung dankten.

Entdeckungs- und Forschungsreisen wurden schon in den ältesten Zeiten unternommen, zunächst zur Anknüpfung und Erweiterung von Handelsbeziehungen, von Phönikern, Karthagern, Griechen. Solche sind: die im Auftrag des Königs Necho von Ägypten ausgeführte Umschiffung Afrikas, die Reisen des Hanno, des Skylax von Karyanda, des Pytheas von Massilia u. a. Dagegen hatten die von einigen griechischen Philosophen gemachten Reisen rein wissenschaftliche Zwecke, so die Herodots; durch Alexanders d. Gr. Feldzüge konnte Aristoteles Erkundigungen über den fernen Osten einziehen lassen. Durch die Ausbreitung der römischen Herrschaft wurden Reiseunternehmungen innerhalb des großen Reichs wesentlich gefördert. Dann unternahmen die Wikinger in den nördlichen Meeren ihre Fahrten, die sie bis nach Grönland und Nordamerika ausdehnten (s. Nordpolexpeditionen).

Die Ausbreitung des Islam war ein mächtiger Sporn zum R. Die jährlichen Pilgerfahrten führten Mohammedaner aus allen Weltteilen zusammen, auch rüsteten mohammedanische Herrscher Expeditionen aus zur Lösung naturwissenschaftlicher Fragen, so Harun al Raschid zur Erforschung des Ursprungs und der Natur der grauen Ambra. Ebenso wurden die Pilgerfahrten von Hindu und Buddhisten zu großen Reiseunternehmungen und sind es auch noch heute. Vom Abendland pilgerten gläubige Christen zum Heiligen Lande, die Kreuzzüge waren nur ein großartiger Ausdruck dieses Dranges. Auch das früher hermetisch verschlossene Zentralasien öffnete sich, und durch Begünstigung der Mongolenfürsten konnte es Handelsreisenden möglich werden, von Europa bis zur Hauptstadt des großen chinesischen Reichs zu gelangen. Dorthin bestand eine bestimmt vorgezeichnete Straße. Als kaufmännisches Volk ersten Ranges unternahmen die Venezianer große Reisen, ihr bedeutendste Reisender jener Zeit ist unzweifelhaft Marco Polo. Die Entdeckung der Neuen Welt und des Seewegs nach Ostindien gab der Neigung zum R. neue Nahrung. Es beginnt das "Zeitalter der Entdeckungen", gekennzeichnet durch die Namen Kolumbus und Vasco da Gama. Mit Magelhaens beginnen die Reisen um die Erde, die Fahrten zur Auffindung einer nordwestlichen Durchfahrt, die Nordostfahrten, die Fahrten in die Südsee durch die Magelhaensstraße, die Nordpolexpeditionen und die Fahrten nach den Südpolarländern. Bis zur zweiten Hälfte des 17. Jahrh. waren merkantile Zwecke für die Richtung der großen Entdeckungsreisen ausschließlich oder doch hauptsächlich maßgebend. Die Spanier dehnten ihre Entdeckungen in Amerika nicht über die Fundstätten von Edelmetallen aus, die Portugiesen suchten nach kostbaren Gewürzen, die Russen nach wertvollen Pelztieren, während das vornehmste Ziel der Engländer war, möglichst kurze Seewege nach den neuentdeckten Gebieten im Osten und Westen zu finden. Später folgten Niederländer und Franzosen, während Deutsche nur in Diensten andrer Nationen auftraten, so Tysker als Begleiter der Normannen nach Nordamerika, so M. Behaim als Begleiter Diego Cams nach Angola; Steller ging mit Bering, die beiden Forster mit Cook, Chamisso mit Kotzebue. Die letzten Unternehmungen verfolgten neben den merkantilen auch wissenschaftliche Zwecke.

Die wissenschaftlichen Forschungsreisen beginnen um die Mitte des 17. Jahrh. und haben sich seitdem namentlich in neuerer Zeit in großartiger Weise entwickelt. Ihre Zwecke waren verschieden. Es handelte sich um die Beobachtung von besondern Himmelserscheinungen (Durchgang der Venus, Sonnenfinsternis etc.), Gradmessungen und andre wissenschaftliche Aufgaben, um die Erforschung bestimmter Gebiete in Bezug auf ihre geographischen Verhältnisse, ihre Pflanzen-, Tier- und Menschenwelt, um Messungen der Tiefen der Ozeane und die Ergründungen ihrer Bodenformation sowie ihrer Bewohner, endlich um das Studium der wirtschaftlichen Zustände fremder Länder zur Anknüpfung von Handelsbeziehungen. Alle diese Richtungen erfuhren einen ganz besondern Aufschwung durch die großartige Ausdehnung des Handels, namentlich der Engländer, welche infolge ihrer über die ganze Erde verzweigten Handelsbeziehungen und ihres großen Kolonialbesitzes ganz besonders darauf hingewiesen wurden, fremde Länder und Völker genauer kennen zu lernen. Die Zahl englischer Forscher, welche zum großen Teil auf Kosten des englischen Staats oder der Kolonialregierungen ausgerüstet wurden, ist ebenso wie die daraus hervorgegangene wissenschaftliche Reiselitteratur eine sehr große. Sie finden sich verzeichnet bei den einzelnen Erdteilen, ebenso wie die Unternehmungen der Franzosen, deren fast sämtlich aus öffentlichen Mitteln bestrittene Expeditionen meist sehr bedeutende wissenschaftliche Resultate zu Tage gefördert und in umfangreichen Werken niedergelegt haben. Auch die Thätigkeit der Russen, Schweden, Dänen, Nordamerikaner ist eine bedeutende gewesen und die Litteratur über ihre Reiseunternehmungen sehr beachtenswert. Die deutschen wissenschaftlichen Expeditionen haben sich besonders durch innern Gehalt und Vielseitigkeit ausgezeichnet. Die Kosten der meisten von ihnen wurden von einzelnen deutschen Regierungen oder Fürsten, auch mehreren derselben zusammen sowie aus öffentlichen Sammlungen bestritten. So wurden Spix und Martius durch die bayrische Regierung nach Brasilien abgesandt, so wurde das österreichische Kriegsschiff Novara für seine Weltreise und namentlich für die Ozeanforschung ausgerüstet, so bewilligte Preußen die erforderlichen Mittel für Expeditionen nach Ägypten unter Brugsch und Lepsius, nach Ostasien und Persien, so konnte Heuglin nach Ostafrika gehen, und verschiedene Fahrten in die Nordpolargegenden kamen auf diese Weise zu stande. Nach Aufrichtung des Deutschen Reichs trat die deutsche Reichsregierung in kräftiger Weise bei der Unterstützung von Reisenden ein, so namentlich bei den Forschungsreisen in Afrika und bei der Polarforschung. Zur Ozeanforschung wurde das deutsche Kriegsschiff Gazelle entsandt, auch wurden verschiedene Expeditionen nach Afrika von der Reichsregierung nachhaltig unterstützt. Allerdings standen die Mittel, welche den deutschen Reisenden bewilligt werden konnten, weit zurück