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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Schweiz

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Schweiz (Bewohner).

dagegen fehlt ihr der Maikäfer. Im ganzen bleibt mit dem Walde, der Hauptmasse des Pflanzenlebens, auch die Hauptmasse des Tierlebens zurück. Nur wenige Weichtiere und Würmer sowie eigentümliche Arten dunkler, flügelloser Käfer, meist kleiner Schmetterlinge und ausdauernder Spinnen treten über der Baumgrenze noch auf. Der Flußkrebs, die Eintagsfliege bleiben zurück, während die Stubenfliege, die Bremsen und Dungfliegen der Spur von Mensch und Vieh bis an die Schneegrenze folgen. Die Schneeregion ist auf die höchsten Kämme, Gipfel und Mulden der Hochalpen beschränkt. Mit Überraschung erblickt der Kenner noch Steinbreche, Enziane, Krüppelweiden, häufiger aber Kryptogamen: Moose, Flechten und jene Alge, die im "roten Schnee" aufgefunden wird (im Verein mit den niedersten tierischen Gestalten). Man findet selbst noch Insekten, und aus der Alpenregion gibt es etwa Besuch: die Schneekrähe, das Schneehuhn, der Schneefink und das Murmeltier. Die Einöde des ewigen Schnees ist zugleich die letzte Zufluchtsstätte des Steinbocks.

[Areal und Bevölkerung.] Die S. nimmt eine Fläche von 41,390 qkm (751,6 QM.) ein und zählte 1. Dez. 1880: 2,846,102, am 1. Dez. 1888: 2,934,057 Einw. (ortsanwesende Bevölkerung). Die vorläufigen Resultate der letztern Zählung zeigt die Tabelle S. 748.

Die Schweizer Bevölkerung hat sich in zahllosen einzelnen Berghütten und Bauernhöfen, Weilern, Dörfern, Flecken, Städtchen und Städten, zusammen 3055 Gemeinden bildend, angesiedelt. Es gibt nur drei Städte, welche nach Einwohnerzahl des Stadtkerns und des Weichbildes sich Anspruch auf großstädtischen Charakter erworben haben, Zürich, Basel und Genf. Im ganzen zählt die S. 54 Gemeinden mit je über 5000 Einw. (unter letztern 19 Kantonshauptorte), und von diesen 54 Gemeinden zählen wieder 18 je über 10,000 Seelen, nämlich: die Kantonshauptorte Genf, Zürich, Basel, Bern, Luzern, Freiburg, Schaffhausen, Herisau, St. Gallen, Neuchâtel und Lausanne; ferner La Chaux de Fonds, Außersihl, Winterthur, Riesbach, Biel, Plainpalais und Le Locle. Die überseeische Auswanderung, welche 1883 bis auf 13,502 Personen gestiegen war, ist seitdem stetig gesunken, 1887 auf 7558 Personen (davon 6448 nach Nordamerika). Während die Auswanderer etwa zur Hälfte der landwirtschaftlichen Bevölkerung angehören, sind die Einwanderer, deren man jährlich ca. 6-7000 zählt, überwiegend Handwerker. Es gab 1886: 20,080 Eheschließungen, 901 Ehescheidungen, d. h. 1,90 auf 1000 Ehen, ferner 84,142 Geburten, wovon 4158 uneheliche, 60,061 Sterbefälle, davon 13,271 unter einem Altersjahr, 3337 über 80 Jahre. 18,521 Todesfälle stehen in der Rubrik "Krankheiten der Atmungsorgane", 692 unter "Selbstmord". Im ganzen bildet das Schweizervolk einen kräftigen und gesunden Schlag, selbstverständlich weniger in den Fabrikbezirken als unter den Bauern und Hirten, besonders im Hasle, Emmenthal, Entlebuch, in Unterwalden und in mehreren Thälern Graubündens. Im allgemeinen, sagt man, ist der Schweizer bieder, voll Liebe zum Vaterland, stolz auf seine ererbte Freiheit, ein Liebhaber des Waffenhandwerks und körperlicher Übungen, ein trefflicher Schütze; Arbeitsamkeit und Ordnungsliebe sind vielverbreitet, und ein humaner Sinn bethätigt sich gern in milden Werken.

Die gegenwärtige Bevölkerung der S. ist das Ergebnis Jahrtausende alter Wandlungen im Völkerleben. Lange vor den Römern hauste an den Seen das Pfahlbauvolk, vielleicht keltischen Stammes, von Jagd und Fischerei, Viehzucht und Ackerbau lebend und zu verschiedenen häuslichen Künsten fortgeschritten. Seit Entdeckung der Meiler Baute (1854) sind auf schweizerischem Gebiet über 200 Pfahlbaustätten bekannt geworden. Zu der Zeit, als die Römer sich zu Herren des Landes machten, war dieses größtenteils von den Helvetiern und verwandten Stämmen, im bündnerischen Gebirge von den Rätiern bewohnt. Die Helvetier waren keltischen Stammes; aber es ist nicht ermittelt, in welchem Verhältnis sie zu den Pfahlbauleuten standen. Sie vermischten sich mit den Römern und wurden romanisiert. Bald aber brachen die Stürme der Völkerwanderung los. Es wanderten verschiedene germanische Stämme ein: Alemannen, Burgunder und Ostgoten kämpften um Besitz und Herrschaft. In der nördlichen S. erlag das keltisch-romanische Wesen dem alemannisch-fränkischen. Das römische Wesen verschwand, die deutsche Sprache breitete sich über die Nordschweiz aus. Anders in den übrigen Landesteilen. Die Ansiedelung der Burgunder in der westlichen S. beruhte nicht auf Übermacht, sondern auf Vertrag, auf Übereinkunft zwischen Romanen und Germanen. Die letztern, als der barbarische Volksteil, beugten sich vor der Macht der römischen Gesittung; sie paßten sich allmählich in Lebensweise, Sitte und Sprache den Romanen an. Es bildete sich eine Tochtersprache des römischen Volksidioms (Französisch). Ähnliches geschah jenseit der Alpen, auf dem Boden ostgotischer Einwanderung; denn hier erschienen die Langobarden, welche rasch ihr germanisches Wesen einbüßten. Auch dort also, auf der Südseite der Alpen, erhielt sich die Volkssprache der Römer in verjüngter Gestalt (Italienisch). Im rätischen Gebirge hatte die Romanisierung schon zu Tiberius' Zeiten begonnen. Die römische Übermacht, nachdem sie die Rätier bezwungen und fast vernichtet hatte, besetzte das Land mit römischen Ansiedlern, und unter diesen erhielt sich, durch die Völkerstürme wenig betroffen, die gemeine römische Volkssprache (Rätoromanisch). Freilich zog sich diese in den spätern Jahrhunderten allmählich auf einen engern Raum zurück, gedrängt von alemannischer Einwanderung, welcher die Graubündner Thäler offen standen, und überhaupt bei aller Zähigkeit schwach gegen das deutsche Übergewicht. So sind, abgesehen von einem fremdartigen (semitischen), numerisch unbedeutenden Volksanteil (s. unten), aus der Mischung der vorrömischen, römischen und nachrömischen Elemente zwei verschiedene Völkerklassen, resp. Sprachgebiete entstanden: die germanische (Deutsche 71,32 Proz.) und die romanische (Franzosen 21,74 Proz., Italiener 5,34 Proz. und Rätoromanen 1,31 Proz.). Auf die übrigen Sprachen entfallen 0,2 Proz. Eine Nationalitätenkarte zeigt, daß der deutsche Stamm, entsprechend seinem numerischen Übergewicht, auch das ausgedehnteste Areal besetzt hat: die ganze nördliche und mittlere S. Von dieser aus drang der Kolonialstrom selbst hoch in das Gebirge hinauf und stieg jenseit des St. Gotthard tief in die Thäler des Rhône und der Toce hinab. Sogar der kolossale Gebirgsstock des Monte Rosa bildete keine Grenzscheide für die deutsche Sprachverschiebung; an seiner Südseite, im "Krämerthal" von Gressoney und in einigen benachbarten Thalorten, lebt die deutsche Sprache fort, wie im Simpeln- und Formazzathal und in dem einsamen tessinischen Bergkessel von Bosco. Namentlich bot das Rheinthal eine bequeme Pforte, um höher in das rätoromanische Gebiet vorzudringen. Längs der vorarlbergischen Ill siedelten sich die Alemannen zunächst im welschen Land (Walgau, d. h. Gau der Welschen) an, um später selbst die