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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Strafrecht

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Strafrecht (Allgemeines).

im objektiven Sinn der Inbegriff der Rechtsnormen über strafbare Verbrechen; im subjektiven Sinn die Befugnis, wegen verübten Unrechts Strafe zu verhängen (Strafgewalt, Strafzwang, Jus puniendi). Das S. im objektiven Sinn enthält die Grundsätze, welche der Staat bei der Ausübung seines Rechts, zu strafen (S. im subjektiven Sinn), zur Anwendung zu bringen hat. Wie nun jeder Teil der Rechtswissenschaft sich philosophisch, dogmatisch, historisch und rechtspolitisch behandeln läßt, so wird auch bezüglich des Strafrechts zunächst zwischen natürlichem (allgemeinem, philosophischem) und positivem (dogmatischem) S. unterschieden. Ersteres enthält die strafrechtlichen Grundsätze, welche wir durch Denken als die der Idee der Gerechtigkeit und den sozialen Verhältnissen entsprechenden erkennen, letzteres dagegen ist das geltende S. eines bestimmten Staats. Die historische Behandlung des Strafrechts beschäftigt sich mit seiner geschichtlichen Entwickelung, während die strafrechtspolitische Untersuchung (Kriminalpolitik, Strafpolitik) sich mit der zweckmäßigen Weiterentwickelung der einzelnen Strafrechtsinstitute befaßt. Was das positive S. anbetrifft, so haben gegenwärtig fast alle zivilisierten Staaten umfassende strafrechtliche Kodifikationen aus- und durchgeführt, deren Ergebnis sich in einem einheitlichen Strafgesetzbuch darstellt. Daneben enthalten aber Spezialgesetze (Nebengesetze) noch besondere Strafvorschriften, und so entsteht der Gegensatz zwischen allgemeinem und besonderm S. in diesem Sinn. Das S. ist ein Teil des öffentlichen Rechts, und zwar gehören, um die Strafgewalt des Staats wirksam werden zu lassen, drei Materien des öffentlichen Rechts zusammen: das S. enthält die Strafgebote und -Verbote der Staatsgewalt, die Strafgerichtsverfassung schafft die staatlichen Organe für ihre Anwendung (s. Gericht), und der Strafprozeß (s. d.) regelt ihre Thätigkeit. Strafprozeß und Strafgerichtsverfassung werden wohl auch unter der Bezeichnung "formelles S." zusammengefaßt, indem man alsdann das eigentliche S. als "materielles S." bezeichnet. Jede Verwirklichung des staatlichen Strafrechts setzt ferner dreierlei voraus: 1) eine durch die gesetzgebende Macht ergangene Strafdrohung; 2) ein in Gemäßheit dieser Androhung vom Richter nach den Formen des Strafprozesses ergangenes Strafurteil; 3) eine in Gemäßheit des Strafurteils bewirkte Strafvollstreckung. Jeder dieser Sätze enthält auch gleichzeitig eine Negation. Keine Strafe kann nämlich auf Grund freiwilliger Unterwerfung eines sich selbst Anklagenden oder bei Ergreifung auf frischer That vollzogen werden, so daß eine sogen. Lynchjustiz mit dem Bestand eines geordneten Staatswesens unverträglich ist. Anderseits kann aber auch der Richter niemals eine Strafe erkennen, die nicht auf gewisse Handlungen oder Unterlassungen im voraus angedroht war (nulla poena sine lege poenali); ein Grundsatz, der von so großer Wichtigkeit ist, daß er vielfach in die Urkunden des neuern Verfassungsrechts aufgenommen wurde. Im konstitutionellen Staat liegt dabei der Nachdruck darauf, daß Strafdrohungen nur in der Form des Gesetzes, nicht auch in Gestalt sogen. Verordnungen der Monarchen oder der Verwaltungsbehörden ergehen dürfen, noch viel weniger aber der Richter befugt ist, gemeinschädliche oder unsittliche Handlungen auf Grund einer von ihm angenommenen Strafwürdigkeit mit Strafe zu belegen.

Wie aber der Richter an die Schranken des Gesetzes überall gebunden ist, so bleibt auch wiederum der Gesetzgeber an die Schranken der Rechtsidee gebunden. Die wissenschaftliche Entwickelung der letztern und die notwendige Begrenzung der Strafgesetzgebung ist eine der wichtigsten Aufgaben der Rechtswissenschaft. Die wesentlichen Schranken, welche der Bethätigung der Strafgesetzgebung gegenwärtig auf Grundlage allgemein wissenschaftlicher Erkenntnis gezogen werden, sind aber folgende: 1) Zeitliche, insofern das Gesetz niemals hinterher bezogen werden darf auf früher straflos gewesene Handlungen. Mißbräuchlich waren daher die in der englischen Rechtsgeschichte vorkommenden Bills of attainder, wonach im Weg der Gesetzgebung gewisse Handlungen nicht für die Zukunft für strafbar erklärt, sondern hinterher bestraft wurden. In der Hauptsache gilt also der Satz, daß Strafgesetze keine rückwirkende Kraft haben in Beziehung auf die früher vor ihrer Geltung begangenen, straflos oder minder strafbar gewesenen Handlungen. 2) Örtliche Grenzen. Der Wille des Strafgesetzgebers ist nur innerhalb des von ihm beherrschten Staatsgebiets verpflichtend; niemand hat das Recht, Ausländern im Ausland bindende Befehle zu erteilen: das Gesetz ist territorial. Von diesem Grundsatz gibt es indessen Ausnahmen, welche sich einerseits aus dem praktischen Bedürfnis eines wirksamen Rechtsschutzes, anderseits aus dem mangelhaften Zustand des Völkerrechts ergeben. Jeder Staat bestraft seine Unterthanen heutzutage wegen gewisser auch im Ausland begangener Verbrechen, und meistenteils werden ausnahmsweise auch Ausländer wegen einzelner im Ausland begangener Missethaten schwersten Ranges (z. B. Hochverrat, Münzverbrechen) einer Ahndung unterworfen. Die Begrenzung dieser Strafgewalt gegenüber dem Ausland ist jedoch noch heute eine der schwierigsten und streitigsten Angelegenheiten der Wissenschaft. Während nämlich einige von einem sogen. Territorialitätsprinzip ausgehen und danach die im Ausland begangenen Missethaten grundsätzlich straflos lassen wollen, huldigen andre (Mohl, Geyer, Carrara) einer Anschauung, die als Weltrechtsprinzip (Weltordnungsprinzip) bezeichnet wird und den Ort der That regelmäßig gar nicht beachtet, endlich wieder andre dem sogen. Personalitätsprinzip, wonach wenigstens die Unterthanen des Staats an die heimischen Strafgesetze auch im Ausland überall gebunden bleiben sollen. 3) Gegenständliche Schranken. Das einfach Unsittliche oder Irreligiöse scheidet aus dem Gebiet der Strafgesetzgebung aus, was um so wichtiger für das heutige S. ist, als in frühern Zeiten die Strafgesetzgebung überall mit religiösen und kirchlichen Elementen stark versetzt war, vornehmlich im Mittelalter, wo der Einfluß des kanonischen Rechts überwog. Der Strafzwang des Staats wird ferner nur da angewendet, wo der Zivilzwang nicht ausreicht, d. h. der Zwang zur Erfüllung, zur Erstattung, zum Ersatz und zur Herausgabe. In letzterer Beziehung lehrt uns aber die Geschichte des Strafrechts, daß die Ansichten über das Verbrecherische in einer starken Umwandlung begriffen sind. Vom Standpunkt des gegenwärtigen Wissens aus ist zu sagen, daß die Grenze der kriminalistischen Handlungen gegenüber der zivilrechtlichen Materie nach einer einfachen, allgemein gültigen Formel nirgends gezogen werden kann. Der Strafgesetzgeber hat vielmehr notwendig, wenn er die verbrecherischen Handlungen richtig erkennen will, zwei Gesichtspunkte zu vereinigen: den ethischen, wonach nur die jeweilig unsittlichen Handlungen dem Volksbewußtsein auch als verbrecherisch erscheinen können, und den kriminalpolitischen, wonach eine empfindliche, dauernde Schädigung oder Gefährdung