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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Tschechische Litteratur

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Tschechische Litteratur (bis zum 16. Jahrhundert).

ständig unterbrochen. In den 20er Jahren des 19. Jahrh. beginnt ihre Erneuerung und zwar vorwiegend in wissenschaftlicher Richtung unter starker Anlehnung an gesamtslawische Ideen.

I. Periode. Von den ältesten Zeiten bis zu Huß (800-1410). Die ältesten Proben tschechischer und überhaupt slawischer Poesie sind die sogen. "Grünberger Handschrift" (s. d.), angeblich aus dem 9. Jahrhundert, und die "Königinhofer Handschrift" (s. d.), die in das 13. oder 14. Jahrh. verlegt wird und eine Reihe epischer und lyrischer Gedichte enthält, von denen einige aus vorchristlicher Zeit stammen sollen. Die exklusiv nationale Richtung, wie sie in den Dichtungen dieser Handschriften (deren Echtheit übrigens seit ihrer Entdeckung bis auf den heutigen Tag mannigfach angezweifelt wird) zu Tage tritt, konnte sich dem Andrang der westeuropäischen Zivilisation gegenüber nicht lange behaupten. Schon unter Wenzel I. und Ottokar I. drangen mit deutscher Rittersitte auch die damals beliebten poetischen Stoffe nach Böhmen. So ward die "Alexandreïs" Walters von Châtillon von einem unbekannten Dichter tschechisch bearbeitet (13. Jahrh.), ebenso die Artussage in "Tristram", mit starker Nachahmung Gottfrieds von Straßburg, und in "Tandarias a Floribella" (14. Jahrh.). Höher an poetischem Wert stehen indessen die dem Dalimil (s. d.) zugeschriebene (in Wirklichkeit von einem unbekannten Ritter kurz nach 1314 verfaßte) Reimchronik der böhmischen Geschichte und die in trefflicher Prosa geschriebene Erzählung "Tkadleček" aus dem 14. Jahrh. (hrsg. von Hanka, Prag 1824). Auch didaktische Dichtungen, namentlich Tierfabeln, waren damals in Böhmen sehr verbreitet (darunter "Nová Rada" und "Rada zvirat" des Smil Flaška von Pardubitz) wie nicht minder kirchliche Poesien (bemerkenswert die "Legende von der heil. Katharina", aus dem 14. Jahrh., 1860 von Erben herausgegeben) und religiöse Dramen oder "Mysterien", als deren älteste bekannte Probe der nur in einem Fragment erhaltene "Mastičkář" ("Salbenkrämer"), aus dem Anfang des 14. Jahrh., zu nennen ist (hrsg. von Hanka im "Vybor"). - Die tschechische Prosa begann mit Bibelübersetzungen. Ein kleines Fragment des Evangeliums Johannis, der Schrift nach aus dem 10. Jahrh., ist neben der Grünberger Handschrift das älteste Denkmal der tschechischen Litteratur. Die Gründung der Prager Universität 1348 gab dann den Wissenschaften in Böhmen einen raschen Aufschwung. Einer ihrer ersten Schüler war Thomas v. Stitny (s. d.), dessen theologisch-philosophische Abhandlungen von der herrschenden Scholastik stark abwichen. Die älteste Chronik in tschechischer Prosa ist die des Priesters Pulkava von Hradenin (gest. 1380), der sich die Übersetzung der Reisen des Engländers Mandeville von v. Brezow und die des Marco Polo anschlossen. Das älteste Denkmal endlich der böhmischen Rechtsgeschichte ist die "Kniha starého pána z Rozenberka" aus dem Anfang des 14. Jahrh.

II. Periode. Von Huß bis zur Schlacht am Weißen Berg (1410-1620). Das Jahr, in welchem Joh. Huß seinen Bruch mit der römischen Kurie vollzog, wird mit Recht als der Anfang einer neuen Periode der tschechischen Litteratur bezeichnet. Um sich in dem Streit mit Rom die Unterstützung der Volksmassen zu sichern, schlug Huß kühn die Bahnen ein, welche vor ihm bereits Thomas v. Stitny betreten hatte, gab die lateinische Gelehrtensprache auf und wandte sich in gemeinverständlichen tschechischen Predigten und Schriften an das Volk. Hierbei entwickelte er die tschechische Sprache nicht nur praktisch, sondern unterzog sich auch der Mühe, die bis dahin außerordentlich schwankende Orthographie in einer besondern Schrift zu regeln (vgl. "M. J. Husi ortografie česká", hrsg. von Šembera 1857). Diese Bemühungen um die Vervollkommnung der tschechischen Sprache wurden im 15. und 16. Jahrh. eifrig fortgesetzt von der Gemeinschaft der Böhmischen oder Mährischen Brüder (s. d.), welche die vorzüglichsten tschechischen Stilisten hervorbrachte und zuerst in Jungbunzlau und Leitomischl, darauf in Prerau Druckereien anlegte. Wesentlich gefördert wurde der Aufschwung der tschechischen Litteratur auch durch humanistische Einflüsse, namentlich unter Wladislaw II. (1471-1516), als Bohuslaw v. Lobkowitz, welcher eine der reichhaltigsten Bibliotheken seiner Zeit sammelte, und nach ihm eine Reihe namhafter Gelehrten ausgezeichnete lateinische Gedichte schrieben und ein andrer Kreis böhmischer Humanisten, an deren Spitze der Rechtsgelehrte Cornelius v. Vsehrd stand, die klassischen Studien für die tschechisch-nationale Litteratur zu verwerten suchte. Gleichwohl konnte sich unter den erbitterten nationalen und religiösen Kämpfen die tschechische Poesie nicht in dem Maß fort entwickeln, als es sonst ihre glänzenden Anfänge versprachen. Satire und Kriegslieder traten in den Vordergrund. Der "Májový sen" ("Maitraum") des Prinzen Hynek Podiebrad (1452-91) ist nur seines Verfassers wegen zu erwähnen; das satirische Gedicht "Prostopravda" des Nikolaus Dačický von Heslow (1555 bis 1626) hat nur noch für die Kulturgeschichte Wert. Der bedeutendste tschechische Dichter dieser Zeit ist Simon Lomnický (gestorben nach 1622), obschon es ihm an sittlichem Gehalt fehlte, um als didaktischer und moralisierender Dichter Großes zu leisten. Für seine Hauptwerke gelten: "Krátké naučení mladému hospodáři" ("Kurze Anleitung für einen jungen Hauswirt"), ein didaktisches Gedicht mit Zügen der damaligen Sitten, und die Satire "Kupidova střela" ("Die Hoffart des Lebens"), welche ihm bei Rudolf II. den Adel und einen Jahrgehalt einbrachte; auch versuchte er sich in kirchlichen Dramen. Unter den zahllosen kirchlichen Gesängen sind besonders die von dem Bischof der Böhmischen Brüder, Joh. Augusta (1500 bis 1572), größtenteils im Gefängnis verfaßten schwungvollen Lieder hervorzuheben.

Auch in der tchechischen Prosa dieser Periode überwiegt die theologisch-polemische Richtung, indem Kalixtiner, Katholiken und später Protestanten in kirchlicher Propaganda litterarisch wetteiferten. Am wertvollsten sind die teils lateinischen, teils tchechischen Schriften von Joh. Huß, dem Begründer des Protestantismus (1369-1415), von denen die letztern neuerdings von Erben (Prag 1865-68, 3 Bde.) herausgegeben wurden. Auf katholischer Seite zeichnete sich der Prager Dekan Hilarius von Leitmeritz (Litomericki, gest. 1469) aus. Durch kernhaften Stil ragen des genialen Peter Chelčický (s. d., 1390-1460) Schriften hervor, welche der Böhmischen Brüderschaft als Richtschnur galten. Unter den theologischen Schriftstellern dieser Brüderschaft zeichnete sich besonders Lukas (1458-1528) durch glänzenden Stil aus. Die erste tschechische Übersetzung des Neuen Testaments von Lupáč erschien 1475, die erste Gesamtübersetzung der Bibel 1488; bis 1620 erschienen 15 tschechische Bibeln, die beste davon ist die 1579-93 in Mährisch-Kralitz auf Kosten des Johann von Zerotin veröffentlichte ("Bible Kralicka"), die noch heute für das höchste Muster der tschechischen Sprache gilt. Die Begründer der böhmischen Rechtswissenschaft