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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Turkistan

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Turkistan (Ostturkistan: Geschichte).

sind; was immer die Beschäftigung ist, der große Haufe zeigt Gesichtszüge, die aus Tatar und Mandschu, aus Kalmuk und Kirgis gemischt und keiner dieser Nationen bestimmt zuzurechnen sind". Die Größe ist bei Männern 1,62, bei Frauen 1,51 m, die Hautfarbe hell. Die seßhafte Landbevölkerung ist von Turkabstammung und stellt die alten Hiungnu oder Uighur dar, die Hunnen von Attilas anstürmenden Scharen; dem Menschenschlag ist aber im W. deutlich arisches Blut beigemengt, was sich in Statur, Gesichtsbildung und Bartfülle ausspricht. Noch heute sitzen reine Arier in den Hochthälern, die sich vom Mustag (Karakorum) herabziehen, ohne Zweifel Reste der indogermanischen Urrasse, welche einst die Abhänge des westlichen Thianschan bevölkerte. Echte Kirgisen ziehen sich um das ganze Land herum und weiden die Steppen im Hochgebirge ab; die Kalmücken sitzen in der Niederung und an den Sümpfen im Lobdistrikt. Die Sprache ist türkisch mit vielen altertümlichen Formen (vgl. Shaw, Turki language as spoken in Kaschgar and Yarkand, Lahor 1875). Die Nahrung ist nahezu dieselbe wie unter Europäern; man ißt alles, was genießbar ist, insbesondere Fleisch und Fische in großen Mengen. Das Getränk bildet Thee, gebrannte Getränke sind verboten. Der Anzug besteht aus Hemd, Hose und darüber langem Rock; die Füße stecken bei beiden Geschlechtern in Schuhen oder Stiefeln, den Kopf schützt eine Mütze. Die Frauen tragen Hemd, Hose, weiten Kittel, langen Rock und Schulterüberwurf, auf dem Kopf eine niedrige Mütze. Unter den Sitten fällt Gleichgültigkeit gegen weibliche Schamhaftigkeit, gegen Abstammung und Glaubensbekenntnis auf. Zwischen dem 14. und 16. Jahr erfolgt die Verlobung; Scheidung der Frau vom Mann ist häufig und wird geradezu als Geschäft betrieben. Die Religion ist der Islam, aber die jahrhundertelange Zugehörigkeit zu China bewirkte Lauheit im Glauben. Nachdem Jakub Beg (s. unten) sich die Regierung angeeignet hatte, hielt er streng auf die Erfüllung aller Gebräuche des mohammedanischen Glaubens. Nur diesen duldete er im Land; für die Kalmücken fand indes eine Ausnahme statt. Er bot alles auf, um Sittenstrenge wieder einzuführen. Seitdem aber die Chinesen wieder Herren sind, griff auch die frühere lockere Moralität wieder Platz.

[Geschichte.] Die Geschichte Ostturkistans reicht hinauf bis zum 2. Jahrh. v. Chr.; damals unterwarfen die Chinesen, die jedenfalls schon seit längerer Zeit Beziehungen zu Ostturkistan hatten, dieses wie das jenseit des Gebirges liegende Chokand, und wenn auch Chinas Beziehungen zu Ostturkistan zeitweise unterbrochen wurden, so gebot doch China im ganzen bis zum Einfall der Mongolen; die Religion war in der ersten Zeit der Buddhismus, dem hier im 5. und 7. Jahrh. n. Chr. weitberühmte Klöster errichtet waren; auch alte Christengemeinden (Nestorianer) gab es. Im 8. Jahrh. (713 nach arabischen Quellen) zogen Araber über den Terekpaß östlich bis Turfan, der Buddhismus dauerte aber fort; erst Mitte des 10. Jahrh. nahm Satuk (auch Ilikchan), der in Kaschgar regierende (Türken-) Fürst, den Islam an. Dieser Satuk vereinigte alle türkischen Stämme unter seinem Zepter, überzog Bochara, selbst Chiwa, mit Krieg und starb 1037; ein Angriff, den der Herrscher von Chotan auf das von Satuk hinterlassene Reich machte, mißlang, brachte aber Zerrüttung und erleichterte den Mongolen den Sieg. 1218 überzog Dschengis-Chan mit seinen Scharen Ostturkistan, und dessen Herrscherfamilien, welchen die Regierung in Kaschgar, Jarkand, Chotan etc. belassen wurde oder im Weg der Auflehnung zufiel, blieben von nun an in größerer oder geringerer Abhängigkeit von den mongolischen Herrschern aus der Dschagataidynastie, lagen auch unter sich in stetem Hader und hatten wiederholt Kämpfe mit den Tibetern zu bestehen. Die islamitische Geistlichkeit erlangte seit dem 14. Jahrh. großen Einfluß; in Kaschgar bildete sich aus ihren Vorständen (Chodscha, Chwadscha) eine Partei der Weißen Berge und der Schwarzen Berge; erstere wurde Mitte des 17. Jahrh. mit Hilfe des ihr abgeneigten Herrschers von dort vertrieben, wandte sich an den Kalmückenchan der Dsungarei und erwirkte, daß dieser 1678 gegen Kaschgar zog und ihren Führer als Vasallen einsetzte. 1757 besetzten die Chinesen unter ungeheurem Blutvergießen das Land. Die Chodschas fanden Zuflucht im benachbarten Chokand, und ihre Mitglieder benutzten im Einverständnis mit den Eingebornen und mit Unterstützung des Chans von Chokand jeden Anlaß, um den Chinesen die Herrschaft wieder zu entreißen. Madalichan von Chokand zog 1820 selbst gegen Kaschgar und eroberte es; wenn auch der von ihm als Regent eingesetzte Chodscha sich gegen die Chinesen nicht halten konnte, so sahen sich letztere doch veranlaßt, 1831 mit Madalichan einen Vertrag abzuschließen. Hauptbedingung war, die Chodschas zu überwachen. Als indes Chudojarchan 1846 den Thron von Chokand bestiegen hatte, erhoben diese von neuem ihr Haupt; ein Bund von sieben Chodschas kam zu stande, hatte aber keinen Erfolg; ebensowenig die weitern Versuche 1855 und 1856. Neues Blutvergießen brachte 1857 der vorübergehend erfolgreiche Einfall Walichans; demselben fiel 26. Aug. d. J. leider unser Landsmann Adolf v. Schlagintweit (s. d.) zum Opfer, der erste Europäer, der Kaschgar von Indien aus erreichte. Von nun an aber kam das Land nicht mehr zur Ruhe; eine kleine Revolution folgte der andern. Der Aufstand der Dunganen (s. d.) hatte einen solchen Erfolg, daß die Chinesen 1863 sich nur noch in der Citadelle von Kaschgar und Jarkand und in der Stadt Jani-Hissar halten konnten. Schon 1862 hatte Rascheddin-Chodscha den "Hasawat" (heiligen Krieg) gegen die Chinesen erklärt, und zu Anfang 1864 war er bereits als Herrscher von Kaschgarien anerkannt. Da aber Rascheddin kein direkter Nachfolger der in Kaschgarien herrschenden Chodschas war, so entstand bald ihm gegenüber eine feindliche Partei. An die Spitze der letztern stellte sich Sadyk Beg. Dieser wandte sich an den damals in Taschkent und Chokand regierenden Alim-Kul mit der Bitte, den in Kaschgarien sehr populären Busuruk-Chodscha zu senden, welchem er zur Herrschaft verhelfen wollte. 1864 erschien Busuruk in Begleitung eines Gefolges von 50 Mann, unter welchen sich Jakub Beg (s. d.) als Befehlshaber befand, vor den Thoren Kaschgars und wurde mit Freuden aufgenommen. Sadyk Beg übergab ihm die Herrschaft. Jakub Beg wußte sehr bald Sadyk zu verdrängen und wurde zum Oberkommandierenden ernannt. Die Organisation des Heers war sein erstes Werk; schnell hatte er einige tausend Mann zusammen, welche bei der Belagerung der noch von den Chinesen besetzten Citadelle von Kaschgar im Waffenhandwerk geübt wurden. Bald lehnten sich Rascheddin-Chodscha, welcher im Osten von Aksu regierte, Abd ur Rahmân, der Regent von Jarkand, sowie die Städte Aksu, Kutscha und Chotan gegen Busuruk auf. Jakub Beg besiegte deren Truppen und gelangte noch 1865 in den Besitz der Citadelle von Kaschgar. Der schwache Busuruk, nicht im stande, Jakub entgegenzutreten, übergab ihm jetzt alle Geschäfte. Ein Aufstand der